Haben Sie sich einmal überlegt, was passieren könnte, wenn Ihre Mitfernsehzuschauer zu Hause ebenfalls eine Fernbedienung hätten und genauso herumzappten wie Sie? Das jedenfalls war der auslösende Gedanke zu einem Projekt, das ich nach über einem Jahr Vorbereitung schließlich in Zusammenarbeit mit dem Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung und der Berliner Firma Chemie.DE Information Service realisieren konnte und das im Januar dieses Jahres im “Abendkonzert” auf SWR2 uraufgeführt wurde: INTErnetGEneratedRadio. Der Fernseher war dabei ersetzt durch das Radio und die Fernbedienung lag im Internet bereit.

16 Werke unterschiedlicher Genres von Bach bis Bartok standen den Teilnehmern zur Auswahl. Dabei galt es folgende Regeln zu beachten:

      Bei mehreren durch Mausklicks ausgelösten Programmwünschen (eines oder mehrerer Teilnehmer) innerhalb eines Intervalls von 10 Sekunden springt das Programm nicht auf das aktuell gewählte, sondern auf das insgesamt meistgewählte Stück um. Bei mehreren Klicks innerhalb von 4 Sekunden wird der sogenannte Klangverarbeitungsmodus ausgelöst, der das Originalmaterial abhängig von der Beteiligung verfremdet und resynthesiert. Gehen für 4 Sekunden keine Klicks mehr ein, springt INTErnetGEneratedRadio in den Originalmodus zurück.

Ohne Beteiligung aus dem Internet bestünde die Aufführung also aus dem bloßen Abspielen des die Sendung einleitenden Beethoven Streichquartettes op. 132. Die Wahl des Materials beruhte auf zwei Gesichtspunkten: Zum einen ist traditionelle klassische Musik leicht einzuordnen und wiedererkennbar, zum anderen lag mir daran, die eingefahrenen Barrieren zwischen den Musikrichtungen zu überwinden und den klassischen Musikhörer, den der akademischen Neuen Musik zugewandten, vor allem aber auch den Experimental/Techno/HipHop/Ambient-Programmierer zusammenzuführen (sowohl das zur Programmierung von INTErnetGEneratedRadio verwendete MAX/MSP wie auch REAKTOR gehören zu den Standardwerkzeugen der Szene).

Die maßgebliche Aufgabe des Komponierens von INTErnetGEneratedRadio war, einerseits dem Mitspieler soviel Freiheit zu lassen, dass er die Auswirkungen seiner Aktionen nachvollziehen konnte, andererseits aber auch einen Rahmen vorzugeben, der ein “sinnvolles” musikalisches Ergebnis garantierte. Ich programmierte dafür 14 sehr charakteristische Effektrouten, die in Abständen von 30 oder 60 Sekunden wechselten und von den Teilnehmern nicht verändert werden konnten. Die verwendeten Effekte lassen sich in 3 Gruppen aufteilen: Diejenigen, die den Originalklang in Echtzeit modulieren wie Filter (der sehr steilflankige Digitalfilter des Experimentalstudios), Combfilter (erzeugt mit einem Lexicon-Effektgerät), Hüllkurven, Ringmodulator, Pitchshifter, Bitcrasher und Vocoder (Creamwares Pulsar-DSP-System). Solche, die einen zuvor aufgenommenen Speicher auslesen wie Sampler und Granularsynthesizer (hierfür verwende ich die Software MAX/MSP von Cycling74). Und drittens ein sehr komplexes mit der Software REAKTOR von Native Instruments erzeugtes Ensemble, das soweit geht, aus der mit einer bestimmten Frequenz ausgelesenen Amplitude eines einzelnen Samples neue Klänge zu generieren.

Waren die Routen vorgegeben, so ergaben sich sämtliche Parameter für die Effekte, auch für das Aufnehmen und Abspielen von Samples, aus dem Klickverhalten der Teilnehmer. Dabei zählte nicht nur der gewählte Programmbutton, sondern vor allem auch die Dauer der Klicks (d.h. wie lange die Maustaste gedrückt wurde). Eine längere Dauer lieferte in der Regel auch höhere Parameterwerte. Um die hartgeschnittene Struktur des Effektroutings zu brechen, gab es parallel dazu sogenannte “special effects”, bestehend aus eben diesen Effekten, die für jeweils bis zu 2 Sekunden zusätzlich zu hören waren. Diese wurden ausgelöst durch eine bestimmte Klickhäufigkeit pro Sekunde bzw. durch numerische Berechnungen. (Jedem zur Auswahl stehenden Programm war eine Zahl zugeordnet, die innerhalb des MAX/MSP-Kontrollprogramms auf vielfältige Art ausgewertet wurde.) Zur Orientierung konnte der Teilnehmer in seinem Browserfenster neben dem meistgewählten Stück den Wert seiner eigenen Klickdauer, sowie die Anzahl der Klicks aller Teilnehmer pro Sekunde bzw. pro Minute entnehmen.

Dieser Rücklauf wurde realisiert mit JavaScript und CGI-Scripts, die auch die Daten für das von Hans Benedict und Barbara Wess von Chemie.DE geschriebene Webserverprogramm lieferten. Der Webserver schickte dann UDP-Pakete (ein Netzwerkprototkoll) von Berlin ins Studio nach Freiburg, wo diese dann, in Midi-Daten umgewandelt, das Kontrollprogramm von INTErnetGEneratedRadio speisten. Das komplette Setup stellt sich folgendermaßen dar:

Die Probleme, die ein Projekt solcher Bandbreite aufwirft, sind nicht nur technischer und ästhetischer Natur, sondern bestehen auch in der Einbettung in vorhandene bzw. in der Schaffung neuer Infrastrukturen: INTErnetGEneratedRadio ist ein Projekt, das ein Feedback vom Publikum fordert, dieses geradezu thematisiert. In einer gewöhnlichen Radioübertragung gibt es im Gegensatz zum Konzert nicht die Möglichkeit einer unmittelbaren und vom Ausführenden wahrnehmbaren Reaktion seitens der Zuhörer. INTErnetGEneratedRadio ist aber auch kein Konzert, für das es bereits einen Ort gibt und für das man eine Veranstaltungsreihe mit einem Stammpublikum gewinnen könnte.Trotz der Einbindung von SWR2 in die Kabelnetze einiger Großstädte außerhalb des offiziellen Sendegebiets (und natürlich der Möglichkeit, den Sender über Satellit zu empfangen) ist eine Teilnahme nur für die wenigen Haushalte sinnvoll, in denen sich Stereoanlage und Computer (mit Internetanschluss) in einem Raum befinden. Der SWR reagierte auf diese Herausforderung mit umfangreichen Werbemaßnahmen in Form von Postkarten und offiziellen Pressemitteilungen. Die Aufführung von INTErnetGEneratedRadio ist mit allen an der Aufführung beteiligten Personen und Institutionen, besonders erwähnen möchte ich Reinhold Braig vom Experimentalstudio und Hans Benedict von Chemie.DE, sehr gut gelungen:

Innerhalb des 22-minütigen Stückes gingen von ca. 500 Teilnehmern 35.000 Klicks ein, was einem dauerhaften Klickbombardement gleichkam. Auch wenn INTErnetGEneratedRadio auf diesen Fall vorbereitet war - in einem Test simulierten wir auf dem Berliner Server sogar 76.000 Klicks über die Länge des Stücks verteilt (wobei sich erstaunlicherweise nicht das Internet oder Intranet des SWR als Nadelöhr erwies, sondern das Midi-Interface zum MAX/MSP-Rechner, das sich bei dieser Datenmenge verabschiedete) – widersprach ein solches Klickverhalten der in den Spielregeln gegebenen Empfehlung zum Zuhören und Reagieren. Einige Teilnehmer waren wohl vor allem bestrebt nach bewährter Computerspielmanier den Highscore sprich das meistgewählte Stück zu erklicken. Keine Rede von einem gruppendynamischen Klickverhalten, das aufgrund musikalischer Entwicklungen einmal zu mehr, einmal zu weniger Klicks oder auch zu klickfreien Perioden führt.

Durch seine Charakterisierung als Live-Konzert öffnet sich mit INTErnetGEneratedRadio ein neues Feld künstlerischer bzw. soziologischer Untersuchungen, das u.a. von dem polnisch-amerikanischen Multimedia-Künstler Miroslaw Rogala in der Arbeit zu seinem PhD (Strategies for Interactive Public Art) für interaktive Kunstwerke angedacht wurde – Rogala vergleicht das Verhalten von Einzelpersonen und Gruppen in interaktiven Räumen - und gleichzeitig die Fortsetzung Canettischer Massentheorien bedeutet. Gibt es oder kann es eine geschlossene Masse oder ein soziales Gefüge wie ein Publikum im Internet geben? Lässt sich ein Raum definieren, in dem -analog zu einer Konzertveranstaltung - zu einem bestimmten Zeitpunkt sich ein Publikum mit allgemein bekannten und akzeptierten Verhaltenscodices einfindet? Ersteres ist der Aufführung von INTErnetGEneratedRadio gelungen und Verhaltenscodices können sich bei einer neuartigen Art von Veranstaltung noch nicht gebildet haben. Ein Konzert ist aber mehr als das Geschehen auf der Bühne, und sein Publikum ist mehr als die Summe der Teilnehmer dieses Ereignisses. Und hier zeigt sich die Grenze der Möglichkeiten des Projekts: Ein realer Raum erlaubt die gleichzeitige Wahrnehmung vieler Vorgänge und schafft ein Gefühl von Gemeinsamkeit. Der virtuelle Raum erweist sich als ungeeignet, ein Publikum in diesem Sinne zu bilden. Die Informationen, die die Teilnehmer auf ihren Bildschirmen bezüglich des Publikumsverhaltens erhielten, konnten einen wirklichen Raum nicht ersetzen. Es bildete sich keine Gemeinschaft. Die Demokratie des Internets besteht mehr aus den immensen Möglichkeiten der Individualisierung als aus einem sozialen Gefüge.

Alternativ wäre eine Ausstrahlung von INTErnetGEneratedRadio über 3, 4 oder mehr Stunden denkbar: dann gäbe es keine geschlossene Teilnehmergruppe, die den Verlauf des Stückes mitbestimmte, sondern mehr oder weniger zufällig vorbeisurfende Besucher, die hereinschauten und wieder gingen. Jeder würde seinen Teil zu einem Ganzen beitragen, ohne den gesamten Verlauf des Stückes zu kennen. Es wäre dann auch kein Live-Konzert mehr als vielmehr ein Work-In-Progress.