Musik kommentiert

Manuskript, SWR 2001

Dror Feiler: Extension du domaine de la lutte

Zuspiel: Extension du domaine de la lutte, zeitkratzer (Ausschnitt)

Der Titel des soeben angespielten Stückes Extension du domaine de la lutte, auf Deutsch: Ausweitung der Kampfzone, mag Ihnen bekannt vorkommen: Der gleichnamige Roman des französischen Autors Michel Houllebeqc aus dem Jahre 1994 erregte einiges Aufsehen, beschreibt er doch sehr düster und zynisch die Situation eines Individuums in der heutigen Gesellschaft. Für Houllebeqc ist die Kampfzone jener Abschnitt des Lebens, in welchem der Einzelne seinen Platz innerhalb der Gesellschaft sucht. Die Liberalisierung von Wirtschaft und Sexualität bedingt nach seinen Worten die „Ausweitung“ dieses Zeitraums zu einer generationsübergreifenden sowie klassenlosen Kampfzone.

In seiner politischen Aussage steht der Roman Houllebeqcs dem 1951 in Israel geborenen Komponisten Dror Feiler sicherlich nahe. Scheut dieser – Sohn eines ehemaligen Chefs der Kommunistischen Partei Israels - sich wenig vor ideologischen Statements. Und doch erstreckt sich die Kampfzone in Feilers Stück im Wesentlichen auf den Bereich der Musik: Obwohl er seit fast 30 Jahren in Schweden lebt und dort ein Kompositionstudium, unter anderem bei Brian Ferneyhough, absoviert hat, beruft sich Feiler künstlerisch auf seine asiatische Herkunft. Er distanziert sich von der europäischen Musiktradition, oder besser: Er thematisiert diese Distanzierung geradezu, indem er für ihn typische Eigenschaften westlicher Tradition wie kontrapunktisches, vertikales Denken dem Texturierten asiatischer Musik gegenüberstellt.

Zitat (Feiler): Was könnte ich, als gebürtiger Israeli, als Asiat mit dem europäischen Begriff des Satzes anfangen, mit dem der Klimax, des Motivs, der Durchführung? Was heißt Orchestrieren? Was ist ein Solo? Instinktiv wollte ich Musik schreiben und spielen, die frei ist von europäischen Bürden. Jeder Komponist und Musiker - und ganz besonders nicht-europäische -  müssen sich diese Fragen stellen. Viele der Komponisten, die immer noch im althergebrachten Sinn mit Notation und Instrumentation umgehen, sind Opfer eines ausweglosen Systems, in dem nicht improvisiert wird und Musik nicht erfahrbar ist. Um eine solche Falle zu umgehen, schaffe ich meine Werke in einem organischeren, lebendigeren Prozeß, indem ich versuche, vorgefasste Klangvorstellungen beiseite zu schieben, verschiedene musikalische Ausdrucksformen zu mischen und alle diese Dinge in die Komposition einfließen zu lassen. Fast alles, was Musik lebendig macht, stammt aus Konflikten entweder innerhalb der Musik selbst oder der Musik mit den Ohren des Zuhörers.

Dror Feiler definiert also die Bereiche „seiner“ Kampfzone einmal innerhalb der Musik selbst und andererseits als Wechselwirkung zu den Hörerwartungen des Rezipienten. Er beschreibt das Szenario weiter:

Zitat (Feiler): Wenn der Intellekt auf den manischen Raver trifft, entsteht eine neue Musik mit einer neuen Dimension des Denkens und Fühlens. Lärm im weitesten Sinne ist ein zentrales Element meiner Musik. Ihre aufgeschliffene Rauhheit dient dazu, Hörgewohnheiten zu verändern. Außerhalb seines gewöhnlichen Umfelds konfrontiert, berührt und verändert Lärm. Er schockiert und reißt den Zuhörer, der eine leicht dahinfließende, sicher vertraute, besänftigende  Musik erwartet, aus seiner gewohnten Umgebung. Das heißt: Lärm politisiert das akustische Umfeld

Bereits 1907 schrieb Ferruccio Busoni in seinem Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst:

Zitat (Busoni): Denn das weiß das Publikum nicht und mag es nicht wissen, daß, um ein Kunstwerk zu empfangen, die halbe Arbeit an demselben vom Empfänger selbst verrichtet werden muß.

Feiler fordert den Zuhörer noch darüber hinaus:

Zitat (Feiler): Meine Musik ist schwierig in dem Sinne, wie Adorno Schönbergs Musik für schwierig hält. Nicht weil sie prätentiös oder undurchsichtig wäre, sondern weil sie eine aktive Teilnahme des Zuhörers - wie auch des Spielers, der ja selbst Zuhörer ist - erfordert. Als organisierter Klang verlangt meine Musik von Anfang an aktives und konzentriertes Zuhören, schärfeste Aufmerksamkeit auf simultane Vielschichtigkeit, den Verzicht auf die gewohnten Krücken eines Hörens, das immer weiß, was zu erwartet ist, und die intensive Wahrnehmung des Einmaligen und Besonderen. Sie fordert vom Zuhörer, ihre innere Bewegung spontan zusammenzusetzen und verlangt von ihm nicht bloße Betrachtung sondern Praxis.

Wie kann eine solche aktive Teilnahme, die der Komponist von seinem Zuhörer fordert nun ausssehen? Der folgende Abschnitt aus dem Roman Houllebeqcs ermöglicht eine erste Annäherung: Der Ich-Erzähler sitzt in einer ihm fremden Stadt in einem Cafe und betrachtet das Treiben auf dem Marktplatz:

Zitat (Michel Houllebeqc: Ausweitung der Kampfzone, Rowohlt-Verlag S. 75): Ich beobachte zuerst, dass sich die Leute meist in Banden oder kleinen Gruppen von zwei bis sechs Personen fortbewegen. Keine Gruppe scheint der anderen zu gleichen. Offenbar sind sie einander ähnlich, sie ähneln einander sogar beträchtlich, aber diese Ähnlichkeit kann man nicht als Gleichheit bezeichnen. Es ist, als ginge es ihnen darum, den Antagonismus zu veranschaulichen, der notwendigerweise mit jeder Art von Individuation verbunden ist: kleine Unterschiede der Körperhaltung, der Bewegungsweise und der Art, wie man dem anderen begegnet.

Beim Hören eines Stückes von Dror Feiler ist man zunächst in einer ähnlichen Situation wie Houllebeqs Erzähler. Entsprechend der Menschen auf dem Marktplatz ist über die gesamte Spielzeit jederzeit das ganze Stück sichtbar, denn eigentlich verändert sich von Anfang bis Ende nichts. Der Komponist ist bestrebt, ein konstantes Energielevel aufrecht zu erhalten. Was passiert, das passiert im Zuhörer: Seine Wahrnehmung richtet sich auf Einzelheiten. Er ortet individuelle Motive. Durch eine zunehmende Fokussierung versucht er das Äußere zu fassen: die Masse bekommt eine Textur.

Den 9 traditionellen Instrumenten steht in Extension de la domain de la lutte ein elektronisch erzeugter Klang gegenüber. Die Stimmen der einzelnen Instrumente sind durchweg hochvirtuos, voller vertrackter rhythmischer Motive. Die komplexe, ausgetüftelte Struktur eines Ferneyhough-Stückes wird man trotzdem vergeblich suchen. Mit Hilfe von Computer-Algorithmen, die er von dem 1. Hauptsatz der Thermodynamik - besser bekannt als Energieerhaltungssatz - und dem Prinzip der radioaktiven Halbwertszeit ableitete, generierte der Komponist eine Ausgangsbasis an melodischen und rhythmischen Motiven, die er dann gemäß seiner musikalischen Ideen bearbeitete. Wie bereits erwähnt, sollte dabei sowohl in der Horizontalen wie Vertikalen ein gleichbleibendes Energielevel erhalten bleiben.

Zwei Blöcke, die jeweils von einem Unisono-Klang eingeleitet werden, bilden das Gerüst des Stückes. Signifikant sind dabei die Registerwechsel, die innerhalb beispielsweise des 1. Blocks das Stück viermal in die Höhe „treiben“. Hören Sie als Beispiel die Wiedergabe eines solchen Registerwechels als Midi-Simulation, das heißt: der instrumentale Teil der Partitur wird direkt vom Computer abgespielt und nicht von Instrumentalisten:

Zuspiel: Registerwechsel aus Paritur

Nun, die entsprechende Stelle in der Aufnahme des zeitkratzer-Ensembles unter der Leitung des Komponisten.

Zuspiel: Registerwechsel aus Aufnahme

Wie Sie hören, ist das zugespielte elektronische Material sehr dominant. Und das, obwohl sämtliche Instrumente verstärkt sind. Durch die musikalische Dichte sind sie aber im Einzelnen nicht immer wahrnehmbar und erscheinen nur gelegentlich aus der Masse heraus. Dies ist aber nur ein Grund für den offensichtlichen Unterschied zwischen Partitur und Aufnahme: Die Musiker halten sich tatsächlich nur peripher an das Geschriebene: Dror Feiler versucht, die Haltung eines Improvisators in seiner Partitur zu fixieren und ermutigt im Vorwort geradezu die Interpreten, „zwischen den Zeilen“ zu spielen:

Zitat (Feiler): Die Partitur und die Stimmauszüge meiner Komposition „Extension du Domaine de la Lutte“ spiegeln meine musikalische Vision. Mir ist bewußt, daß durch die komplizierten und verzwickten Rhythmusmuster und das extreme Tempo das Stück sehr schwierig zu spielen ist. Eine improvisatorische Umsetzung der Partitur ist daher nicht nur erlaubt, sondern ausdrücklich erwünscht.

Für Komponisten Dror Feiler, der selbst als Improvisator auf der Bühne steht, stellt sich die Frage der Notation auf eine spezielle Art: Weiß der Improvisator doch durch wenige Zeichen mit seinen Mitspielern zu kommunizieren, und versucht der Komponist im allgemeinen mit möglichst detailierten Anweisungen eine Interpretation in seinem Sinne zu ermöglichen.

Für ein Orchester im klassischen Sinn ist ein freier Umgang der Partitur nicht realisierbar. Und deshalb ist das Stück so kompliziert notiert: Da jede einzelne Stimme sich an der Grenze zur Unspielbarkeit bewegt, zwingt Feiler die Musiker ihr Äußerstes zu geben, über sich hinauszuwachsen. Im Falle einer Zusammenarbeit mit einem Ensemble wie zeitkratzer, das sich auf den Grenzbereich zwischen zeitgenössischer Musik und „komponierter Improvisation“ spezialisiert hat, bietet sich die freiere Form der Aufführung an. Diese Freiheit ist aber weder willkürlich noch handelt es sich hier tatsächlich um eine Improvisation. Die Musiker von zeitkratzer, die alle auch selbst Komponisten sind, „arbeiten“ sich genauso durch die Partitur wie ein Orchestermusiker, mit dem Unterschied, dass sie nicht an der einzelnen Note hängen, sondern versuchen die „Geste“ zu spielen, die dahintersteckt. Und – da liegt der große Unterschied – noch auf das reagieren, was der Nachbar tut.

Am Anfang dieser Sendung ließ ich in meiner Übersetzung Dror Feiler mehrmals das Wort „Lärm“ verwenden. Zugegebenermaßen habe ich das nicht ganz korrekt übersetzt: Im englischen Original spricht Feiler von „Noise“, ein Ausdruck dessen Bedeutungsumfeld sich im Deutschen von „Geräusch“, über „Rauschen“ bis hin zu „Lärm“ erstreckt. Im Gegensatz zu einer geräuschlastigen Musik John Cages, die auch äußerst leise kann, ist „Noise“ in der Musik Dror Feilers, wie auch in der sogenannten „Noise Music“, immer laut. Während leise Musik, den Hörer zum Lauschen, zum Öffnen der Sinne nach Außen anregt, ist die „Noise Music“ ein körperliches, betäubendes, zuweilen gar ekstatisches Ereignis und ähnelt diesbezüglich manchen Extremen der Rockmusik. Allerdings birgt „Noise“ durch das Fehlen eines statischen rhythmischen Gerüstes nicht die Gefahren einer Gleichschaltung von Menschenmassen, sondern reduziert den Einzelnen auf sich selbst. Für den japanischen „Noise“-Musiker Akita Masami, besser bekannt unter dem Namen seines Langzeitprojekts MERZBOW, ist „Noise“ gar die erotischste Form von Musik. Er geht soweit, die Erfahrungen, die seine Musik auslöst, mit sado-masochistischen Sexualpraktiken zu vergleichen: Beides läßt sich nur nachvollziehen, wenn man daran teil hat. Dror Feilers Aussage, die Musik werde im Hörer komponiert, zielt in eine ähnliche Richtung. „Noise“ ist keineswegs destruktiv, wie die abgeklärte, emotionslose Weltsicht Houllebeqcs, sondern sinnlich und kreativ.

Zitat (Feiler): Wenn ich komponiere, suche ich nicht Schönheit, sondern Wahrheit. Ich versuche nicht, „international“ zu sein, sondern wahr, ursprünglich, „lokal“. Dann, hoffe ich, wird mein Werk präzise und klar. Dann fühle ich, daß ich mich mit der Essenz befasse: mit Kunst“

Und nun lieber Hörer, Extension du domaine de la lutte von Dror Feiler. Es spielt das zeitkratzer-Ensemble unter der Leitung des Komponisten. Und vergessen Sie nicht: Diese Musik kann nur wirken, wenn man sie sehr laut hört. Zu Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker....