Große Pianisten in unserer Zeit

von Joachim Kaiser und Klaus Bennert

zur erweiterten Neuausgabe 1996

Arm geworden ist die Welt großen Klavierspiels nicht im mindesten. So lautet der Schlußsatz Klaus Bennerts zu der soeben im Piper-Verlag erschienenen Neuausgabe eines Buches, das in seiner Erstfassung durch feinsinnige Betrachtung des Spiels berühmter Pianisten dem engagierten Laien und dem angehenden Berufsmusiker gleichermaßen die Ohren zu öffnen wußte. Bedauerlicherweise scheinen große Kritiker nicht in dem Maße zu reifen - oder auch nur ihr Niveau zu halten - wie ihre Objekte. Und wenn Arthur Rubinstein sich einst zu dem Buch äußerte: Noch niemals habe ich erlebt, daß musikalische Interpretation mit derartiger Genauigkeit und Liebe zum Detail analysiert und beschrieben wurde, dann mag man ihn glücklich schätzen, daß ihm die Revision seines Urteils durch sein rechtzeitiges Ableben erspart blieb. Was den Verlag allerdings nicht daran gehindert hat, das Lob eigenmächtig auch der 1996er Ausgabe beizumessen, deren Erweiterungsteile inzwischen gut ein Drittel der Gesamtseitenzahl einnehmen.

Tatsächlich hatte Kaiser in den 60er Jahren einen Stil gefunden, der den doch oft herablassend betrachteten Beruf des Musikkritikers in ein neues Licht setzte. Trotz oder gerade wegen seiner nachvollziehbar dargestellten Subjektivität gelang es Kaiser, die Besonderheiten seiner begutachteten Interpreten zu vermitteln. Der Vergleich zwischen Rubinsteins zeitlich zwar langsameren aber schneller wirkenden 2. Satz des mozartschen A-Dur-Konzertes zu Wilhelm Kempffs Einspielung gab mir damals lange zu denken. Mit seinem 1975 erschienenen Buch Beethovens 32 Klaviersonaten und ihre Interpreten erreichte Kaiser den Höhepunkt seiner Klaviermusik-Betrachtungen, und sein Ansatz: Hat ein Professor von Musikanten wie Schnabel, Furtwängler, Solomon, Kempff, Gould, Gulda nichts zu lernen? hätte zur Maxime für Musikwissenschaft und -kritik werden sollen. Ob dieser Anspruch die Kritikerwelt wirklich veränderte, sei dahingestellt. Herrn Kaiser auf jeden Fall scheint er nicht weiter interessiert zu haben, zumindest was die Folgeausgaben der Großen Pianisten angeht. Bezeichnenderweise wurden keine neuen Notenbeispiele hinzugefügt. Gab es schon 1965 verblüffende - nicht weiter ausgeführte - Ansichten, wie z.B. die Beurteilung von Michael Pontis sorgfältig und schön eingespielter Aufnahme skrjabinscher Sonaten, so werden die Betrachtungen von Ausgabe zu Ausgabe pauschaler. Seine in der vorliegenden Edition selbst zum Ausdruck gebrachte Unlust am Thema - die ihn zur Heranziehung eines Ko-Autoren bewog - dürfte also schon früher ansatzweise vorhanden gewesen sein.

War es schon immer verwunderlich, wie Kaiser Joachim zu der Überzeugung gelangte, nur die großen Alten spielten das ganze Repertoire - das für den Kritikerpapst allerdings mehr oder weniger ausschließlich aus Mozart, Beethoven, Schumann, Liszt und Chopin zu bestehen scheint - so mutet es noch erstaunlicher an, daß Einspielungen sämtlicher Beethoven-Sonaten von anerkannten Spezialisten wie Claude Frank, Bernhard Roberts oder Richard Goode auch bei seinem Nachfolger keinerlei Erwähnung finden, obwohl sie sicherlich nicht inkompetenter als beispielsweise Guldas Version sind. Hat denn ein Kritiker von solchen Interpreten nichts zu lernen? Was soll man davon halten, wenn Klaus Bennert, ohne den Beweis zu erbringen - das Notenbeispiel möchte ich sehen! -, behauptet, in den Schlußtakten zu Strawinskys Petruschka würde mehr als auffällig eine harmonische Wendung aus Listzs h-Moll-Sonate zitiert? Was hat man sich unter den synästhetischen - also mitempfindenden - Bezügen zur fraktalen Geometrie - der sogenannten Chaostheorie - in Ligetis Klavierkonzert vorzustellen? Warum hebt Bennert Shura Cherkasskys Verdienst um so zeitgenössische Komponisten wie Ives und Strawinsky hervor - gar nicht zu reden von einer solchen Nettigkeit wie Morton Goulds Boogie-Woogie-Etude -, wo dieser sich doch auch mit dem Klavierwerk Boulez' und Stockhausens beschäftigt hat? Und gehören traditionell notierte Klavierstücke wie die Etüden Ligetis, die schon Pflichtstücke im ARD-Wettbewerb waren, nicht längst zum normalen - auch oftmals eingespielten - Repertoire eines jeden Musikstudenten.

Und, verdammt nochmal, Herr Kaiser, wieso soll denn ein Pianist heute so spielen wie Gilels vor 20 Jahren? Wieso soll es damals normative Interpretationen gegeben haben. Weder Giles noch Serkin noch Brendel konnten mir die Hammerklaviersonate so lebendig vermitteln wie Robert Levin auf dem Hammerklavier.

Mögen die Kritiker und Feuilletonisten ihre Fehler machen, so wie sie die Kulturschaffenden auch machen. Der Musikmarkt ist inzwischen unübersehbar, und seine Betrachtung keine leichte, wenn überhaupt zu bewältigende Aufgabe. Das Traurige an den Erweiterungsteilen der Großen Pianisten unserer Zeit ist, daß sie im Gegensatz zur ersten Version nicht zum Hören oder Nachdenken animieren, sondern eine Ansammlung von pauschalisierenden Eitelkeiten seiner Autoren sind. Ein Weg zurück ins Mittelalter der Musikkritik.

02.02.98