Der Neobechstein, oder: Die erste E-Gitarre der Welt war ein Klavier

Autor: Michael Iber

HR2, Neue Musik, 16.12.2008

 

 

Zuspiel 1
Musik

2:40

Henry Cowell: The Banshee, Interpret: Reinhold Friedl

CD neo-bechstein, Zeitkratzer Records zkr 006 (LC-Code: 18747)

Zuspiel 2
O-Ton Friedl
0:33

Ganz ursprünglich gab’s ein Konzert, wo ich mono gespielt habe, noch mit einem Analogverstärker. Wo ich dann die Stücke von Cowell gespielt habe, die sich natürlich anbieten bei dem Klavier. Also deswegen, weil diese Abnahmeweise nicht mit Mikrofonen funktioniert, sondern mit Tonabnehmern, der dafür sorgt, dass nicht die Nebengeräusche der Präparation zum Klingen kommen, sondern nur das, was auf den Saiten passiert. Das heißt, das kommt manchen Präparationen sehr entgegen oder manchen Spielweisen auf den Saiten sehr entgegen, weil man halt einfach das Anreißen und das Scheppern vom Metall nicht hört. Und solche Sachen, die außerhalb der Saite passieren.

Autor 1a

Der Berliner Musiker Reinhold Friedl hat zusammen mit dem Klavierbauer David Balzer und dem Ingenieur Sukandar Kartadinata in jüngster Zeit einem Instrument zu neuer Geltung verholfen, das ein dreiviertel Jahrhundert lang allenfalls in einschlägiger Fachliteratur Beachtung fand. Und das, obwohl der Neobechstein-Flügel mit seinen elektromagnetischen Tonabnehmern als Vorläufer der E-Gitarre gelten darf. Deren klanglicher Einfluß auf die Musik der letzten 70 Jahre ist indes unbestritten.

 

 „The Banshee“ ist nach der „Aeolian Harp“ das zweite Stück des amerikanischen Komponisten Henry Cowell, dessen Klänge ausschließlich im Innern des Klaviers erzeugt werden. Mit heute selbstverständlichen Spieltechniken wie dem Zupfen oder Streichen der Saiten mit dem Fingernagel revolutioniert der Komponist das Klavierspiel in den 20er Jahren. „String Piano“  nennt er diesen Griff ins Innere eines Instrumentes, dessen bauliche Entwicklung im 19. Jahrhundert stagnierte. Damit schafft er neue klangliche Perspektiven, die sich Jahrzehnte später unter dem Begriff „Inside Piano“ weiter entfalten werden.

Autor 1b

Doch Cowell, der auch als „Erfinder“ der Cluster, also Akkorden aus eng benachbarten Tönen, gilt, zeigt sich nicht nur am Klavier kreativ. Er erkennt das Potential der zu jener Zeit aufkommenden elektrischen Musikinstrumente. 1930 entwirft er selbst die erste elektronische Drum Machine und beauftragt mit ihrer Konstruktion den Russen Léon Theremin, den Erfinder des nach ihm benannten Instruments. Von der Entwicklung des Neobechstein-Flügels allerdings, der für seine musikalischen Ideen geradezu geschaffen scheint, hat Cowell wohl keine Kenntnis genommen. Möglicherweise liegt das an der etwas ungeschickten Positionierung des Instruments auf dem Markt: Mit Radio und Plattenspieler ausgestattet, ist der Neobechstein mehr auf urbane bürgerliche Verhältnisse mit einem konservativen Musikverständnis hin ausgerichtet als auf einen künstlerischen Einsatz. Auch gelingt es den Komponisten jener Zeit noch nicht, auf ein Instrument unabhängig von seiner traditionellen Spielweise zuzugehen und in einem E-Piano, denn nichts anderes ist der Neobechstein, ein Instrument zu sehen, das einen eigenständigen kompositorischen Ansatz erfordert.

 

Im Gegenteil: Wie Hindemiths Trautonium-Stücke deutlich zeigen, wird selbst elektronische Musik traditionell instrumental gedacht. Von einer spezifischen elektronischen Sprachform keine Spur.

 

Der Cowell‘sche Griff bleibt zunächst ein Kuriosum der Klaviergeschichte. Und es vergehen einige Jahrzehnte, bis der Neobechstein und die avancierten Spieltechniken Cowells in den Händen des Inside-Piano-Spezialisten Reinhold Friedl zusammen fließen.

Zuspiel 3
O-Ton Balzer
1:43

Also damals ist dann das Heinrich-Hertz-Institut an die Firma Bechstein herangetreten, ob man das nicht ausprobieren solle. Bechstein hat sich dann darauf eingelassen. Es gab dann praktisch eine Arbeitsteilung, also das Heinrich-Hertz-Institut respektive Siemens, Telefunken zeichnet für die Technik verantwortlich und das Hause Bechstein eben für den klavierbauerischen Teil. Bechstein versprach sich davon eine Steigerung der Absatzzahlen, aber dieses Ziel konnte damals nicht erreicht werden, weil die Akzeptanz einfach nicht da war, schlicht aus klanglicher Hinsicht.

Autor 2

So der Klavierbauer David Balzer, Besitzer eines der beiden noch funktionstüchtigen Instrumente:

Zuspiel 4
O-Ton Balzer
1:43

Das Instrument entspricht in keinster Weise normalen klanglichen Idealen, die es damals oder auch heute noch im pianistischen Bereich gibt. Insofern war es eigentlich eine etwas sinnentleerte Konstruktion. Das hatte kein wirkliches Ziel. Außer die eben damals vorhandene Technik auszuprobieren. Entsprechend hat dieser Flügel auch eben alles, was damals Stand der Technik war. Man hat also nicht nur einen elektro-akustischen Flügel gebaut, sondern man hat ihm gleichzeitig auch noch ein Radio spendiert und einen Plattenspieler, der untergebracht war in einer externen Box, ursprünglich gehörte eine Mono-Lautsprecherbox dazu, und oben in der Box war ein Plattenspieler drin. Man konnte das Radiosignal, Plattenspielersignal und Flügelsignal über einen kleinen Holzschieber miteinander mischen.  Im Endeffekt war das Multimedia.

Autor 3
 

Im August 1931, nach drei Jahren Entwicklungszeit, kommt der Neobechstein als Serienprodukt auf den Markt. Ganz so „ziellos“ wie Balzer sich ausdrückt, ist das Konzept aber dann doch nicht. In seiner Kombination mit Radio und Grammophon strebt die Berliner Klavierbaufirma Bechstein vor allem eine Wiederbelebung der Hausmusik an. Diese hat seit der Einführung des Rundfunks 1923 stetig an Bedeutung verloren. Und im Hinblick auf bürgerliche Wohnverhältnisse lässt sich der resonanzbodenlose Flügel alternativ auch über Kopfhörer spielen. Mit der Einbindung der zusätzlichen Komponenten setzt man auf neue kulturelle Praktiken, wie zum Beispiel die Streicherbegleitung von Schallplatte als kammermusikalischen Ersatz für das heimische Ensemble. Ein Konzept, das viele Jahre später als „music minus one“ erfolgreich sein wird, im Falle des Neobechstein aber wirkungslos verpufft: Von schätzungsweise 150 produzierten Instrumenten werden in den ersten zwölf Monaten gerade einmal acht Exemplare verkauft. Dabei hatte Bechstein großen Wert darauf gelegt, sein Produkt für möglichst viele erschwinglich zu machen, und, wenn man so will, beabsichtigt, ein „Volksinstrument“ zu schaffen.

 

Spielt man traditionelles Klavierrepertoire auf dem Neobechstein, so wird schnell klar, warum dem Instrument der Eingang in die deutschen Haushalte verwehrt blieb.

Zuspiel 5
O-Ton
0:15

Beispiel: Italienisches Konzert

Autor 4

Versteht man den Neobechstein allerdings als ein eigenständiges elektro-mechanisches Instrument, als E-Piano, und nicht als bloßen Ersatz für das akustische Klavier, dann öffnen sich völlig neue Klangwelten für neue kompositorische Ansätze:

Zuspiel 6
O-Ton
1:00

Diskussion „Klangeigenschaften“

Zuspiel 7
O-Ton Balzer
0:20

Also ich empfinde diese Flügel immer ein bisschen als unberechenbar. Das ist bei jedem Flügel ein bisschen eigen, aber bei keinem so sehr wie dem hier. Bei Deinem D-Dur Stück ist das immer ganz schön zu merken, variierst Du den Anschlag ein ganz kleines bisschen, hast Du sofort einen komplett anderen Teiltonaufbau

Zuspiel 8
Musik
1:57

Reinhold Friedl: Dee, Interpret: Reinhold Friedl (Ausschnitt)

CD neo-bechstein, Zeitkratzer Records zkr 006 (LC-Code: 18747)

Autor 5

Federführend bei der Entwicklung des Neobechsteins am Heinrich-Hertz-Institut der Universität Berlin ist dessen Direktor, der Nobelpreisträger Walther Nernst. Ihm verdankt das Instrument auch den Beinamen Bechstein-Siemens-Nernst-Flügel. Wie gesagt, man verzichtet auf einen Resonanzboden. Dieser sorgt bei einem „echten“ Flügel nicht nur für das Klangvolumen. Mit seiner Masse beeinflusst er auch das Schwingungsverhalten der Saite. Er dämpft die hohen Frequenzen, verkürzt die Schwingungszeit und prägt so maßgeblich den Charakter des Klavierklangs. Beim Neobechstein versuchen die Entwickler, diesen fehlenden Effekt mithilfe einer zusätzlichen mechanischen Dämpfvorrichtung zu kompensieren. Und es gibt noch einen weiteren Eingriff in die traditionelle Klavierkonstruktion: Der Anschlag des gewöhnlichen Klavierhammers lenkt die Saite für die Magnetspule zu weit aus. Um dem entgegen zu wirken, kommen sogenannte „Mikrohämmer“ zum Einsatz. Bei kurzen Anschlägen erzeugen sie  einen fast cembalo-haften Klang.

Für die Ausgeglichenheit zwischen den einzelnen Registern sorgen Kondensatoren, die den Tonabnehmern nachgeschaltet sind.

Zuspiel 9
O-Ton Balzer
1:06

Der Flügel hat 18 Tonabnehmer. Unter jedem Tonabnehmer werden schlicht aus Platzgründen jeweils 5 Saiten gebündelt. Und im Original war es eben so, dass alle 18 Tonabnehmer auf einen Ausgang gegangen sind. Der Flügel ist jetzt in technischer Hinsicht nur insoweit geändert worden, dass jeder Tonabnehmer jetzt einen eigenen Ausgang hat, und die Kondensatoren wurden rausgenommen. Also die Kondensatoren dienten eigentlich vorher dazu, den Frequenzgang zu justieren. Also gerade dieses extrem hohe (SPIELT) das war im Original nicht ganz so vorhanden. Um die ganzen hohen schrillen Teiltöne raus zu filtern, hat man einfach das Signal vorher eben durch diese Kondensatoren geschickt. Und die sind jetzt in diesem Falle eben überbrückt, weil gerade jetzt für Reinholds Inside-Techniken natürlich das reine unverfälschte Saitensignal interessant ist.

Autor 6

Die „Inside Piano“-Techniken von Reinhold Friedl, die David Balzer erwähnt, gehen weniger auf das „String Piano“ Cowells zurück als auf deren konsequente  Weiterentwicklung, wie sie vor allem der Italienische Komponist und Pianist Mario Bertoncini betrieben hat. Als erstem gelingt ihm Anfang der 60er Jahre die Erfüllung eines pianistischen Urtraums: das Erzeugen kontinuierlicher Klänge und somit die Widerlegung von Igor Stravinskys These des Klaviers als Schlaginstrument. Dafür ersinnt Bertoncini eine Reihe von heute selbstverständlich zum Repertoire eines Neue Musik-Pianisten gehörenden Spieltechniken, angefangen bei Saiten, die mit Nylonfäden verknotet sind, über collofonierte Gegenstände, die, an den Saiten entlang geführt werden und hohe Pfeiftöne erzeugen, bis hin zu einem motorgetriebenen Rädchen, das Saiten in dauerhafte Schwingungen versetzt. Rhythmische Texturen erzeugt Bertoncini mit Kuhglocken, die er im  Saitenkasten schwingen lässt versetzt oder diverse Arten von Bürsten, mit denen er über die Saiten „schrubbt“.

 

Reinhold Friedl beschäftigt sich seit langem mit diesen von Bertoncini systematisierten Techniken, die er zum Teil verfeinert und um weitere bereichert. Geradezu spektakulär sind die stehenden Klänge, die schon beim geringfügigen Verschieben eines schweren Eisenrohrs im Saitenkasten entstehen.

Autor 6b

Durch ihren texturalen Charakter und ihre differenzierte Obertonansteuerung erinnern im Inneren des Klaviers erzeugte Klänge an elektronische Musik. Eine künstliche Verstärkung bietet sich deshalb zunächst nicht an, nimmt sie doch diesem Effekt Einiges an Wirkung. Im Zusammenhang mit Friedls zeitkratzer-Ensemble, das „Verstärkung“ als musikalischen Parameter geradezu thematisiert ist eine Abnahme der Klänge über dicht stehende Mikrofone allerdings unumgänglich. Mit weiteren Nebenwirkungen: Der mit den recht umständlichen Spieltechniken verbundene „Aktionismus“, das Wechseln der Utensilien, das gelegentliche Anstoßen an den Rahmen: all diese Geräusche werden mit verstärkt. Neben der schier unbegrenzten  Schwingungsdauer seiner Saiten spielt der Neobechstein hier seine Vorteile gegenüber dem herkömmlichen Flügel aus.

Zuspiel 10

O-Ton

Inside-Klänge

Autor 7
 

Im Neobechstein-Projekt von Reinhold Friedl ist die Mehrkanaligkeit ein wichtiger Aspekt.

Zuspiel 11

O-Ton Friedl
0:22

Und das war die wesentliche Idee, dass eigentlich dieses Ding von 1928 einem wunderbar entgegenkommt für Mehrkanal-Musik. Und halt die Idee das aufzulöten und einzelne Signale zu nehmen, was Sukandar dann getan hat. Wir haben aus pragmatischen Gründen das reduziert auf 8 Kanäle. Es gibt 18 Tonabnehmer, man könnte auch 18 einfach nehmen. Wir haben das auf 8 reduziert und die wurden dann als Raummusik verwendet.

 Autor 8

Für die räumliche Klangsteuerung experimentiert Sukandar Kartadinata mit verschiedenen selbst entwickelten Hardware-Interfaces. Dabei legt er besonderen Wert darauf, dass die Handhabung des Geräts im Einklang mit den musikalischen Funktionen steht. Eine auf Gestenerkennung beruhende „Laptoplösung“ wird schnell verworfen. Denn wie bei einem traditionellen Instrument sollen sich Haptik und Gesten unmittelbar auf den Klang auswirken. Eine ziemliche Herausforderung angesichts der acht mehr oder weniger unabhängig voneinander zu „spielenden“ Kanäle.

Zuspiel 12
O-Ton Friedl
0:53

Das ist eigentlich eine texturale Raumverteilung. Es ist nicht die Idee, dass man sagt: Ich habe einen Klang und sage wo der virtuell ist im Raum. Sondern es ist die Idee, dass man bestimmte Funktionen laufen lässt und auf größeren Funktionen zum Beispiel einer Funktion „Rotation“ arbeitet, indem man Parameter verändert. Das heißt, ich habe 8 Inputs, ich kann zum Beispiel 8 verschiedene Rotationen laufen lassen und kann über einen Regler steuern, inwieweit sich die in der Geschwindigkeit,  in der Richtung verändern. Ich habe eine Funktion, die die Spreizung angibt, also wenn ich einen Ton irgendwo auf Boxen lege dann, habe ich die Frage, gebe ich’s nur auf eine Box oder gebe ich’s auf die Nachbarboxen. Wenn es rotiert, dann hüpft’s ja von einer Box zur nächsten, wenn ichs nicht auf die Nachboxen auch gebe anteilig. Das ist die Spreizung sozusagen. Man kann natürlich spreizen bis zum Vollkreis. Das heißt, wenn ichs auf 7 Boxen spreize, kann ich ein Loch kreisen lassen, wenn ichs dann kreisen lasse.

Autor 9

Neben den Funktionen „Rotation“ und „Spreizung“ gibt es auch die Möglichkeit, Klänge an Positionen springen zu lassen. Um allzu offensichtliche Muster und Synchronisationen zu vermeiden, verfügt die von Kartadinata entwickelte Software zusätzlich über Zufallsalgorithmen. Mit deren Hilfe lassen sich Abweichungsgrade zwischen den Kanälen definieren.

 

Das zeigt nun Reinhold Friedl am Neobechstein mit seiner Komposition „neo-bechstein“. Klangregie hat Sukandar Kartadinata.

Zuspiel 13
Musik

8:16

Reinhold Friedl: neo-bechstein, Interpreten: Reinhold Friedl (Neo-Bechstein), Sukandar Kardinata (Klangregie)

CD neo-bechstein, Zeitkratzer Records zkr 006 (LC-Code: 18747)