Mario Bertoncini:

Cifre (1964-67), Rundfunkmanuskript, SWR 1997

Version für 3 Klaviere

Interpreten: Piano Inside-Out Trio

Cifre von Mario Bertoncini: eine Annäherung

Cifre, oder auf deutsch Chiffre ist laut Lexikon unter anderem: eine Zahl, ein Zahlzeichen, ein Namenszeichen oder eine Geheimschrift. Unter chiffrieren versteht man in eine Geheimschrift übertragen, verschlüsseln. Und in der Literatur ist das Chiffre ein knapp angedeutetes Bild, dessen Sinn oft nur schwer (etwa aus dem Gesamtwerk des Dichters) erschließbar ist.

Automatisch verbindet man mit dem Wort Chiffre Schrift und Schreiben. Und so muß zu einem tieferen Verständnis von Cifre ein wesentliches Augenmerk auf die Partitur gelegt werden. Wie ist sie notiert?

Graphisch angelegt, ohne daß man von einer rein graphischen Notation sprechen könnte, handelt es sich vielmehr um eine piktographische Schreibweise, die wie eine Tabulatur Spielanweisungen gibt. In einem Koordinatensystem sind die Tonhöhe auf der y-Achse, und der Zeitverlauf auf der x-Achse abgetragen. Innerhalb dieses Systems befinden sich die Chiffren: 23 Aktionen, die in ihrem zeitlichen und dramaturgischen Verlauf vorgegeben sind, nicht aber in ihrer Position innerhalb des Stückes, so daß dem Interpreten oder den Interpreten die Ausarbeitung überlassen bleibt.

Die Anzahl der Spieler ist dabei offen. Der Komponist schlägt jedoch (organisatorisch schwer zu realisierende) 2 Flügel pro Spieler vor. Nach der Uraufführung durch Claude Helffer im Jahre 1967 auf einem Klavier wurde das Stück schließlich in Versionen von einem Spieler mit zwei Klavieren und Tonband bis zu hin zu einer Anzahl von 7 Spielern auf 7 Instrumenten aufgeführt. Die Partitur und Regeln für die Ausführung des Stückes bleiben dabei gleich.

Diese ist von links nach rechts zu lesen. Der Spieler wählt bei einem Durchgang einige der Chiffren aus und ersetzt diejenigen, die er nicht spielt durch Pausen. Am Ende angekommen, beginnt er wieder von vorne, wobei ein schon einmal gespieltes Zeichen nicht wiederholt werden darf, bei einer Aufführung mit mehreren Interpreten auch nicht von einem anderen Spieler. Jedes Chiffre muß eine in sich geschlossene musikalische Organik besitzen, zu einer musikalischen Geste werden. Sich musikalisch widersprechende Aktionen, wie z.B. ein extrem lautes und ein leises Chiffre, sollten nicht gleichzeitig erklingen.

Bertoncini nennt diese Bewegung durch die Partitur einen optionalen Weg, den der Spieler beschreiten muß: optional in dem Sinne, als er die Elemente frei nach seinen physischen Möglichkeiten und Begrenzungen wählen kann; optional aber auch abgeleitet von optisch, daß nämlich zum einen der Blick auf die Partitur, die “Lektüre”, den Verlauf des Stückes bestimmt, und daß zum anderen die beschriebene Geste direkt zu einem klanglichen Ergebnis führt. Grafik und Optik werden zu Musik.

Aus diesem Verfahren sollte sich die kompositorische Beschäftigung mit dem Zusammenwirken von Ton und Gestik entwickeln, die Bertoncini auf der Biennale in Venedig 1970 in seinem “Spazio-Tempo” erstmals praktisch realisierte. In diesem Stück werden, um einen Programmhefttext Gianmario Borios zu zitieren, “die Bewegungen von Tänzern direkt in Klang umgewandelt”. Weitere Werke in diesem Sinne sollten folgen, bis hin zu einem 1986 patentierten System “Choreophon”, das tänzerische Gesten in Ton umsetzt.

Cifre unterscheidet sich insofern von Kompositionen improvisatorischer Anlage, als daß das Material, die Chiffren in ihrer Ausführung genau definiert sind, diesbezüglich also keinen Spielraum zulassen. Bertoncini vergleicht dies mit einem Körper, an dem jeder Teil seine Funktion hat, der Einsatz dieser Teile aber auf vielfältige Weise stattfinden kann. Dieser Körper ist Bertoncinis Antwort auf die Suche nach neuen Formen und Modellen der fünfziger/sechziger Jahre. Nicht Form, nicht Improvisation, sondern Organismus, vom Komponisten auch bezeichnet als “forma-meccanismo” oder “forma-organismo”. Für Bertoncini ist das klangliche Material und das Verfahren dabei so sehr an Cifre, das Stück, den Körper gebunden, daß er es, um ihm Authenzität zu geben, niemals wiederverwendet hat.

Die einzelnen Chiffren lassen sich in drei Gruppen einteilen: Aktionen auf den Klaviertasten, Aktionen perkussiven Charakters und anhaltende Klangbänder. Abgesehen von den “Tasten” werden alle Chiffren im Inneren des Klaviers gespielt.

Damit schließt Bertoncini an ein Verfahren an, das im Jahre 1923 der Kalifornier Henry Cowell als erster für zwei seiner Kompositionen benutzte: Das Spiel im Inneren des Klaviers. Aufsehen erregte die unorthodoxe Behandlungsweise des Instruments allerdings erst mehr als 20 Jahre später durch das Präparierte Klavier seines Schülers John Cage. Dieser präparierte das Klavier in der Regel statisch, gewissermaßen als Schlagzeugsurrogat: Zwischen oder auf die Saiten werden Gegenstände wie Schrauben oder Radiergummis zur Klangveränderung gesteckt oder gelegt und bleiben für die Dauer des Stückes unverändert. Im Gegensatz zu Cowell “griff” er nicht “in die Saiten”, sondern verblieb beim traditionellen Spiel auf den Tasten.

Bertoncini verwendet die Cagesche Klavierpräparation in Cifre, vor allem in der Absicht, traditionelle (Klang-)Zitate und Anekdoten zu vermeiden. Die zugehörigen Chiffren in der Partitur beschreiben dabei lediglich einen Fingersatz: Er macht den Pianisten zu einer Maschine, die das Geschriebene ausführt. Gleich dem Bein einer Spinne bewegt sich ein Finger von einer Taste zur anderen, während die anderen an ihre Position gefesselt sind. Dies mag als Beispiel dienen, wie nicht eine Klangvorstellung oder -beschreibung, sondern eine Bewegungsanweisung, oder besser die mechanische Beschreibung einer Geste zu Klang führt.

Vor allem geht es Bertoncini in Cifre aber darum, das “Klavier als ein traditionelles Tasteninstrument, bei welchem zur Tonerzeugung Hämmer auf Saiten schlagen”, zu befreien. Der angeschlagene Klavierton setzt sich aus perkussiven und sonoren Eigenschaften zusammen. Während bis zur romantischen Hochzeit dieses Instruments Melodie und Klanglichkeit im Vordergrund standen, gab es im beginnenden 20. Jahrhundert perkussive Gegenakzente. In Cifre erscheinen diese beiden Aspekte des Klavierklangs makroskopisch:

Dazu verwendet Bertoncini eine pitoreske Sammlung von Materialen: Kuhglocken verschiedener Größe, Drahtbürsten, Bespannungen von Geigenbögen, einzelne Haare dieser Bespannungen, Angelschnüre, Nylonfäden, Paukenschlägel, Holzklöppel und Gummirollen.

Den perkussiven Aspekt sublimeren feinste Vibrationen von Kuhglocken, Bewegungen von Holzklöppeln im Stimmstock des Klaviers, auf den Seiten kratzende Drahtbürsten und heftige Attacken von Holzklöppeln.

Diese Aktionen stehen einem ebenso breiten Spektrum sonorer Klänge gegenüber: Bogenhaaren, die gebündelt zwischen die Klaviersaiten eingefädelt werden, um ein Streichen dieser zu ermöglichen. Auch ponticello, hinter dem Steg gespielt:Oder einzeln an die Saiten geknotet werden. Und dann, entweder lose oder harfenähnlich mit dem anderen Ende am Klavierdeckel befestigt, mit den Fingern gestrichen werden. Für die tieferen Register verwendet Bertoncini Nylonfäden, die ebenfallls auf vielfältige Art gespielt werden können und eindrucksvolle Grund- und Obertonanregungen der Klavierseiten erlauben. Zur Erzeugung von Pfeiftönen verschiebt er die Kuhglocken längs der Saiten.

Im Gegensatz zur Cageschen Präparation ist diejenige Bertoncinis dynamisch. Sie ist ein Werkzeug, das dem Interpreten einen vielseitigeren Spielraum als den bis dahin bekannten bietet: Dieser kann den Klang beim Spielen selbst bilden und formen - und kommt dadurch dem klassisch-romantischen Ideal des Umgangs mit dem Instrument wieder näher. Die vorliegende Aufnahme soll eine Möglichkeit des Dechiffrierens von Cifre vorstellen. Wenn eine Geheimschrift oder unbekannte Sprache dechiffriert wird, ist das dem Text einen “Sinn geben”, “Das Unbekannte in einen verständlichen Kontext setzen”. Musikalisch hieße das: “Form geben”. Obwohl in sich stimmig, sind die Zeichen, die für die Aktionen in der Partitur stehen, sinnlos, da sie in keinem Zusammenhang stehen. Auf die Metapher des “Körpers” bezogen, wären das uneffektive Tätigkeiten, leere Gesten. Der Interpret hat die Aufgabe durch seine Konzeption, eine Form zu schaffen. Form also nicht in der Partitur, sondern in der Realisation.

Im Sommer 1995 trafen sich die Pianisten Reinhold Friedl, Stefano Taglietti und Michael Iber zu einer Probenphase im Berliner Podewil, deren konzertantes Ergebnis zu Beginn dieser Sendung zu hören war, um gemeinsam mit Mario Bertoncini eine Version von Cifre zu erarbeiten. Die Proben, also der Prozeß des Dechiffrierens begann damit, sich das Material und die Spieltechniken zu eigen zu machen, um dann mit einigem Experimentieren einen möglichen Ablauf des Stückes festzulegen. Daß dieser sich im Nachhinein als eine pädagogisch-musikhistorische Interpretation deuten läßt, ist dabei zufällig: Zunächst werden all die Aktionen gespielt, die auf den Klaviertasten stattfinden. Das Thema “Tasten” wird dann im weiteren Verlauf durch das gleichzeitige Schließen der 3 Tastendeckel - auch ein Chiffre - demonstrativ beendet. Es folgt ein Abschnitt mit rein perkussiven Elementen. Den größten Raum nehmen anschließend die gestrichenen Passagen ein. Sie beginnen zunächst in ihrer schroffesten, also dem Perkussiven nächstgelegenen Variante: ponticelli, hinter dem Steg gespielt, um als mit den Fingern gestrichene Harfe einen sonoren Höhepunkt des Stücks zu setzen. Eine dramatische Coda aus aggressiven Glockenschlägen, abrupten Bürstenbewegungen und penetranten Pfeiftönen, die in ein Pianissmo diminuieren, soll das Stück beschließen.

Seit Cifre hat sich Mario Bertoncini in seinen Kompositionen immer mehr verfeinert, vor allem in dem Sinne, daß er eine Reichhaltigkeit des Materials, wie sie hier erscheint, vermeidet. So setzt er beispielsweise in dem 1974 komponierten stilistisch sehr verschiedenen Stück “American Dream” stehenden Klängen, die durch ein patentiertes von einem Elektromotor betriebenen Gummiröllchen erzeugt werden, glockenähnliche Töne in minimalistischer Manier entgegen. Seine beiden Streichquartette, eines davon für vier selbstgebaute Klangkörper, eines für Klavier und seine zahlreichen Windharfen sublimieren dieses Interesse am stehenden Klang weiter. Bertoncini behauptet, schon in Cifre habe ihn eigentlich nur das sonore Element interessiert. Allerdings sei die Zeit für eine solche Ästhetik noch nicht reif gewesen. Einem heutigen Hörer fällt es allerdings schwer, sich vorzustellen, daß Cifre auf seine Zeit schockierend gewirkt hat. Tatsächlich aber waren die allgemeinen kompositorischen Ansätze damals noch so sehr auf intellektuelle Strukturen und ein Brechen des (Wohl-)Klangs ausgerichtet, daß Cifre in seiner reinen Klangästhetik und (Klang-)Körperlichkeit unangenehm aufstieß.