Auf die Geste kommt es an

Booklet-Text zu zeitkratzer “electronics” 2008

Für das auf experimentelle, improvisierte und elektronische Musik ausgerichtete Wire-Magazin ist zeitkratzer seit langem eine der interessantesten Erscheinungen der Avantgarde-Musik. Die traditionsverhaftete, akademisch geprägte Welt der Neuen Musik hingegen tut sich immer noch schwer mit den neun Musikern, die alle irgendwo zwischen Neuer Musik, Jazz und freier Improvisation beheimatet sind. Dabei finden sich Namen wie Karlheinz Stockhausen, Helmut Lachenmann, John Cage, James Tenney, Iannis Xenakis oder Mathias Spahlinger genau so in der Repertoireliste des Ensembles wie Lou Reed, Jim O’Rourke, Terre Thaemlitz oder Keiji Haino. Allerdings ist Neue Musik „schriftfixiert“: Verlage leben unter anderem von druckbarem Leihmaterial, Musiker - vor allem groß besetzte Ensembles - verlangen nach standardisierten Partituren, für die nachbereitende Zunft der Musikwissenschaft ist der überprüfbare Text oft unverzichtbare Grundlage theoretischer Betrachtungen und auch die GEMA bevorzugt unzweifelhaft die etablierte Schriftform von Musik bei ihren Abrechnungen. Darunter leidet jegliche Form von im Bereich der Neuen Musik beheimateter elektronischer oder elektro-akustischer Musik, was beispielsweise zu der nicht unüblichen Praxis führt, bereits fertig produzierte Tonbandstücke im Nachhinein zu notieren.

 

Im Fall von zeitkratzer liegt die Sache etwas anders: Trotz der in der Regel obligatorischen elektrischen Verstärkung geht es hier nicht um produzierte elektronische Musik, sondern um Instrumentalmusik im traditionellen Sinn. Nur existiert bei zeitkratzer zu Beginn der Zusammenarbeit mit einem Komponisten meistens noch keine spielbar fixierte Vorlage. Eine solche wird erst in den Probephasen erarbeitet. Hier lässt sich eine Parallele zu der Arbeitsweise ziehen, wie sie in früheren Jahren in den elektronischen Studios in Köln, München oder Freiburg gang und gäbe war und manchmal heute noch praktiziert wird: Ein Komponist, oft ohne Erfahrungen in der elektronischen Musik, kommt mit mehr oder weniger konkreten musikalischen Vorstellungen ins Studio und die Toningenieure machen ihm – gemäß ihrer persönlichen Möglichkeiten und Vorlieben - Vorschläge für eine Realisierung. Viele, zum Teil sehr bedeutende Stücke sind auf diese Weise entstanden – und hätten gar nicht anders entstehen können, da die von den Studios eingesetzten Technologien weit entfernt von heutigen Standardisierungen waren. Es liegt auf der Hand, dass diese Werke neben den Handschriften der Komponisten auch die der Ingenieure und der Studios tragen. Man kann durchaus behaupten, dass zeitkratzer, mit seinen charakteristischen Musikern und seinem unverkennbaren Profil heute eine ähnliche – oftmals Genre übergreifende - Geburtshilfe übernimmt, wie es ihrer Zeit die Toningenieure in den Studios taten. Denn - Diedrich Diederichsen führt es aus: Manche der von zeitkratzer eingeladenen Musiker sehen sich zum ersten Mal mit der Berufsbezeichnung „Komponist“ konfrontiert. Gerade die interessantesten von ihnen sind musikalisch häufig fernab von Musikhochschulausbildungen sozialisiert und hatten nie zuvor mit instrumentaler Klangproduktion zu tun. zeitkratzer greift die Konzepte und Ideen der eingeladenen Komponisten auf und macht Vorschläge, welche Spieltechniken und welche Verstärkung sich dafür anbieten. Damit das Konzept aufgeht, ist es wichtig, dass die grundlegenden Ideen ihre Identität behalten und zeitkratzer ihnen nicht sein Ego überstülpt.

 

Das Spektrum der zu den Probephasen mitgebrachten Entwürfe oder Vorlagen ist entsprechend der Bandbreite der musikalischen Wurzeln ihrer Urheber sehr vielfältig. Angefangen bei den hoch komplexen, ausnotierten Partituren Dror Feilers, der selbst zwar als Performer auftritt, als Komponist aber in der Orchesterwelt zu Hause ist, umfasst es andeutende Skizzen und Gebrauchsanweisungen à la 4’33’’ eines John Cage genauso wie die am Computer oder im Studio entwickelten Hörskizzen von Terre Thaemlitz oder Merzbow. Letztere gilt es durch wiederholtes Abhören und Probieren – optimaler Weise im Beisein des Komponisten - in eine musizierbare Schriftform zu transkribieren. Die Übertragung eines bereits existierenden, „fertigen“ Stückes in eine Partitur wie bei der Metal Machine Music Lou Reeds ist ein Einzelfall, der zeitkratzer etwas voreilig mit den modischen Kulturtechniken des Coverns oder Remixens in Verbindung gebracht hat . Normalerweise haben die „Hörpartituren“, auf die zeitkratzer zurückgreift, vor allem skizzierenden Charakter für die Erarbeitung neuer, originaler Werke.

 

Der Komponist Ferrucio Busoni trifft den Vorgang des Aufschreibens von Musik sehr gut, wenn er 1916 in seinem „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“ schreibt: Jede Notation ist schon Transkription eines abstrakten Einfalls. Mit dem Augenblick, da die Feder sich seiner bemächtigt, verliert der Gedanke seine Originalgestalt. Die Absicht, den Einfall aufzuschreiben, bedingt schon die Wahl von Taktart und Tonart. Form- und Klangmittel, für welche der Komponist sich entscheiden muss, bestimmen mehr und mehr den Weg und die Grenzen. Wenngleich Busonis Begrifflichkeit heute nicht mehr gebräuchlich ist, erfasst sie doch einen wichtigen Aspekt: Transkription steht für nichts mehr und nicht weniger als die Realisierung - oder die Gestaltwerdung, um im traditionellen Jargon zu bleiben, - einer musikalischen Idee. Dadurch, dass die mit zeitkratzer zusammenarbeitenden Komponisten sich auf die spezifische Arbeitsweise des Ensembles einlassen, treffen sie bereits eine grundlegende Entscheidung für ihr Stück.

 

Auch der lowercase-Elektroniker Bernhard Günter hatte für eines der frühen zeitkratzer-Projekte eine CD als Vorlage geschickt. Dem Umstand, dass er selbst nicht zu den Proben kommen konnte, ist ein kommentierender Schriftwechsel mit dem Ensemble zu verdanken, der den Umsetzungsprozess veranschaulicht: die Schlussphase des Stückes hat ja eine Menge eher hölzerne Geräusche (in Wirklichkeit sind das Regentropfen auf einem japanischen Papierschirm). Da könnte man einen netten kleinen Dschungel mit Percussion und kurzen rhythmischen Einwürfen machen .... Es wäre schön, wenn die Kollegen die wechselnden Atmosphären im Stück mit leisen komplexen Klängen färben ... es wäre also vielleicht gut, einige charakteristische Zusammenklänge zu erfinden (z.B. ein Streicherklang gegen einen Klang Inside Piano) ...

 

Eine CD und ein schriftlicher Kommentar: Aus Vorlagen wie diesen extrahieren die Musiker von zeitkratzer das musikalisch Essentielle. Musikalische Gesten, Klänge, Texturen und Strukturen übertragen sie in ein  auf die praktischen Bedürfnisse einer Aufführung hin zugeschnittenes Notationssystem. Dessen zentrales Element – und das zeigt noch einmal die Nähe zu Produktionsverfahren der elektronischen Musik – ist die Timeline, die Zeitleiste, die auf der Bühne mit Hilfe synchronisierter Uhren umgesetzt wird. Dieses auf Morton Feldman zurückführende Notationsverfahren unterscheidet sich von anderen Orientierungshilfen – wie zum Beispiel Clicktracks - dadurch, dass den ausführenden Musikern zwar ein Zeitrahmen vorgegeben wird, sie aber dennoch Spielraum für ihre Aktionen haben, diese „setzen“ können. Die notierten Spielpartituren können sich am Ende der Arbeitsphasen so einfach und übersichtlich darstellen wie in Carsten Nicolais 5 min (Abb.1). Sie können aber auch wesentlich komplexer sein wie bei Lou Reeds Metal Machine Music oder Reinhold Friedls Xenakis[a]live! (Abb.2)

 

Wie effektiv diese Notation im direkten Gegenüber zu traditionellen Schreibweisen sein kann, ein „Proof of Concept“, zeigt Reinhold Friedl anschaulich in seiner provokanten Bearbeitung des Pierrot Lunaire von Arnold Schönberg– in Anlehnung an Cage als cheap imitation bezeichnet. Im Booklet zur gleichnamigen CD schreibt er:

 

Die kompositorische Vereinfachung wurde verwirklicht, indem der musikalischen Geste die Bedeutung gegeben wurde, die ihr in Schönbergs Musik zukommt: Wen interessiert da die genaue Tonhöhe, wer überhaupt kann sie hören und verifizieren, dass ein Musiker das spielt, was in den Noten steht? Was gehört wird, ist oft nur die Geste, charakteristische Auf- und Abwärtsbewegungen, Ostinati, rhythmisch Prägnantes.

 

Und so „entkernt“ Friedl diesen Klassiker der Musikgeschichte, der sich als Werk des Expressionismus selbst schon als Reduktion versteht, und stampft ihn nochmals ein auf das Wesentliche, Charakteristische, nicht ohne neue parodistische Untertöne. Mit wenigen skizzenhaften Andeutungen – fast jeder der 21 Sätze lässt sich auf einer Partiturseite unterbringen (Abb.3) und keiner dauert länger als eine Minute, was das normalerweise eine Konzerthälfte ausfüllende Werk auf eine Viertelstunde verkürzt – erreicht er eine dem Original entsprechende Dichte an Expressivität und Farbigkeit.

 

Was hier an einem besonders radikalen Beispiel nachvollzogen wird, steht exemplarisch für die meisten „zeitkratzer“-Partituren: Der bereits erwähnte Spielraum, den diese den Musikern lassen, ermöglicht einen unmittelbareren, musikantischeren Zugriff als er im starren Gerüst einer traditionellen Ensemblepartitur möglich wäre. Sie erfordern aber auch ein hohes Engagement von den Musikern, die unmittelbar am Entstehungsprozess eines Werkes teilnehmen und so als Interpreten selbst zu einem festen Bestandteil des Stückes werden. Hierin mag neben der klanglichen Ausbalancierung, auf die das Ensemble größten Wert legt, eine Ursache der außergewöhnlichen physischen Präsenz der Gruppe im Konzert liegen. Die Notation selbst hat nur noch eine Erinnerungsfunktion an das in den Proben Erarbeitete, ist sozusagen das Protokoll des Komponierens.

 

Die Koppelung von Werk und Interpret ist im Pop selbstverständlich, stehen doch nicht nur Noten und Text für ein Stück, sondern auch der „Sound“ der Gruppe. Dabei ist es sekundär, ob der Song aus der Feder eines Gruppenmitglieds oder von einem anderen Komponisten stammt. Auch nachspielende Coverbands messen sich weniger an eigenständigen Songinterpretationen als an der Nachahmung des originalen Sounds. Das „Interpreten“-Modell der klassisch-romantischen Tradition und der darauf aufbauenden Neuen Musik steht dem gegensätzlich gegenüber: Trotz der zahlreichen Beispiele der Geschichte für die Zusammenarbeit von Komponisten und Spielern, erwähnt seien da Mozart und der Klarinettist Stadler, Brahms und der Geiger Joachim, aber auch Luigi Nono und der Flötist Roberto Fabbriciani oder Karlheinz Stockhausen mit „seinen“ Interpreten – setzen die Komponisten hier darauf, dass ihre Musik von möglichst vielen Interpreten gespielt wird und versuchen deshalb, sie nachvollziehbar zu notieren. Die Interpretation dieser Partituren setzt eine inhaltliche Auseinandersetzung, eine Exegese des oder der Spieler voraus und führt - vor allem über mehrere Musikergenerationen hinweg - zu sehr individuellen Deutungsansätzen. Der „Sound“ selbst – um diesen Begriff des Pop zu entleihen – stellt sich in der Rezeption mehr als Charakteristikum eines Interpreten oder eines Orchesters dar als des gespielten Stückes. Für die Kategorisierung einer Komposition ist er zweitrangig. Diese Vernachlässigung nicht notierbarer klanglicher Aspekte geht nicht nur zurück auf Zeiten, in denen der Notentext die einzige Möglichkeit war, Musik zu konservieren. Gerade frühe Schallplattenaufnahmen stachelten Diskussionen darüber an, ob sie eine angemessene Repräsentation eines Werkes darstellen. Adorno vertrat die Ansicht, dass die  Radioübertragung einer Beethoven Sinfonie keine Aufführung des Werkes sei. Bedenkt man die erheblichen Verzerrungen und Frequenzbeschneidungen früher Tontechnik, so kann man diesen Standpunkt sogar nachvollziehen. Der sich daraus ableitende Alleinvertretungsanspruch des Notentextes muss aus heutiger Sicht aber gleichfalls in Frage gestellt werden: Als Transkription – um an diesen Begriff noch einmal anzuknüpfen - musikalischer Ideen ist die CD genauso Repräsentant eines Musikstückes wie die ausnotierte Partitur. In welcher Gestalt sich ein Gedanke ausformt– siehe Busoni – hängt von der Wahl der Handwerkszeuge ab. Aber nicht jede Form, nicht jedes Mittel eignet sich für jede Art von Musik: Mit seiner Sound-Fixierung wäre Pop – hilflose Notationsversuche zeigen es - ohne das Medium „Aufnahme“ vielleicht gar nicht erst entstanden.

 

Bei zeitkratzer kommen diese Aspekte von traditioneller Musik und Pop zusammen: Fußt das Nachspüren, das Hineinversetzen in die Ideen eines Komponisten auf weitreichenden historischen Linien, so steht die daraus resultierende Musik mit der Form ihrer Konservierung und dem Konglomerat von Stück und Interpret dem Pop näher. Voreilig wäre es allerdings, grundsätzlich auf Tonträgern fixierte elektronische Musik in diesen Zusammenhang mit einzubeziehen: Nach wie vor ist das Live-Event, das Auratische des Konzerts ein unverzichtbares Merkmal von Pop. Und auch zeitkratzer muss man live hören.