Musik kommentiert:

Der Schattengeber und sein Schatten

Betrachtungen zum Klavierstück Nr. 7 von Wolfgang Rihm und der
Sonate E-Dur, op. 109 von Ludwig van Beethoven

Autor: Michael Iber, SWR 2000

 

 

Zuspiel 1: Wolfgang Rihm, Klavierstück Nr. 7, 1. Abschnitt

Sie hörten den Anfang des 1980 entstandenen Klavierstücks Nr.7 von Wolfgang Rihm in meiner eigenen Interpretation.

Daß ich diese Sendung “Der Schattengeber und sein Schatten” genannt habe, mag zunächst verwundern, erscheint doch der Begriff des Schattens weder im Titel des Klavierstücks, noch hat sich der Komponist in Programmheftnotizen dazu geäußert.

Der Hinweis auf unser Thema findet sich in Rihms Klavierstück kleingedruckt, als erläuternde Spielanweisung des das Stück durchziehenden Grundmotivs: Wie Schatten sollen die punktierten pianissimo-8tel dem vorangehenden 16tel-sforzatissimo folgen.

Zuspiel 2: Klavierstück Nr. 7, Motiv

Das Wesenseigene des Schattens ist die Bedingtheit seiner Existenz durch ein Subjekt, nämlich das Licht, und ein Objekt, sei es eine Person oder ein Gegenstand.

Paradoxerweise gibt es dafür in der Sprache kein entsprechendes Wort, was zu umständlichen Zusammensetzungen führt wie eben “Schattengeber” oder “Schattenwerfer”.

Zu seinem etwas später entstandenen Schattenstück für Orchester schreibt der Komponist:

Schattenstück als Titel soll lediglich den Weg weisen in dunklere, unerhellte Bereiche der Imagination. Vielleicht fällt auch noch ein realer Schatten auf diese Noten: der von Sibelius ... Diese verehrte Musik mag also ihren Schatten geworfen haben auf mein Stück. Sicher einen Schatten, den man aufs erste Hören vielleicht gar nicht erfährt, den ich aber übers Papier streifen sah, als ich davor saß und komponierte.

Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, wirft in dem Klavierstück allerdings weniger der nordische Komponist als vielmehr Ludwig van Beethoven seinen Schatten auf die Partitur. Das der Einfachheit halber als Thema bezeichnete aus 11 4teln bestehende Eingangsmotiv des Rihmschen Klavierstücks erinnert unmittelbar an den Anfang der Sonate op. 109 von Beethoven und fordert geradezu heraus, sich über die Beziehungen beider Stücke Gedanken zu machen. Hier nochmals das Rihm-Thema unmittelbar gefolgt von den ersten Takten der Sonate E-Dur, op. 109 von Beethoven:

Zuspiel 3: Klavierstück Nr. 7, Thema

Zuspiel 4: op. 109, Thema 1. Satz

In dem streichquartett-artigen Satz des Beethoven-Themas fällt eine ungewöhnliche Zweistimmigkeit auf: das auf die Zählzeiten fallende 16tel ist in einer zweiten Stimme auch als 4tel-Note notiert: Hinter der vordergründigen Melodie verbirgt sich gewissermaßen eine Schattenmelodie.

Doch hieße es Rihm falsch verstehen, hielte man sich mit solch analytischen Details auf: Dem Komponisten geht es um die Geste eines Stückes, um den großen Wurf: Ulrich Dibelius beschreibt diese Vorgehensweise treffend:

Formale Prozesse entwickelt Rihm dabei mit großer Freiheit und ohne jede Vorsätzlichkeit aus wie zufällig gefundenen, doch dann dezidiert aufgegriffenen Zellen; aus intervallischen, rhythmischen oder klanglichen Konstellationen, die selbst dann, wenn sie beibehalten motivische Funktionen übernehmen, eigentlich nur das Initial einer weiterleitenden Spur für die einmal mobilisierte, nachforschende Phantasie sind. Diese folgt nun dem Zwang des möglichst getreuen Erfassens, was da wohin auch immer wächst und zur Entfaltung drängt, den verschiedenen Abspaltungen, Ausbiegungen, Kontrasten, Einschüben, Verzweigungen oder Gegenbildern, streift auch Reflexe von historisch Vorgebildetem oder erinnert sich früherer Phasen auf dem eigenen Weg und fügt alles kaleidoskopartig zum musikalischen Seismogramm eines vielschichtigen Erlebnismoments.

Der dänische Maler Per Kirby, Widmungsträger des Schattenstücks, stellt einen Bezug des Rihmschen Schattens zu dem gleichnamigen Märchen Hans Christian Andersens her: Der Protagonist, ein gelehrter Mann, schickt seinen Schatten in die für ihn unerreichbare gegenüberliegende Wohnung einer geheimnisvollen Schönen. Nach Jahren kehrt der Schatten, der sich verselbständigt hat, als gemachter Mann zurück und stellt nun seinen ehemaligen Herrn als Schatten an. Als der Schwindel aufzufliegen droht, läßt er ihn umbringen.

Der interessante Aspekt, der sich aus dem Heranziehen dieser Parabel ergibt, ist das amorphe Wechselspiel zwischen den beiden Polaritäten: wer ist Schattengeber, wer ist Schatten? Dieses findet auf zwei Ebenen statt: innerhalb des Klavierstücks selbst und in dem Verhältnis zu Beethoven. Ist dieser nun der übergroße Schatten, der auf praktisch allen nachfolgenden Komponisten lag? Ist Rihm der Schatten? Oder das Klavierstück? Oder die Sonate? Und was machen sie miteinander? In besagtem Märchen konnten sie ohne einander auskommen, lediglich das Fehlen eines Schattens fiel auf, auch wenn dem Protagonisten ein kleiner nachgewachsen war. Hat man den Bezug der Beethoven-Sonate und des Klavierstücks einmal hergestellt, wird man das eine nicht mehr hören können, ohne sich des anderen zu erinnern.

Zuspiel 5: op. 109, 1. Satz

In seinem Beethoven-Buch entwickelt der Pianist und Musikwissenschaftler Wiliam Kinderman in Zusammenhang mit der späten Schaffensperiode des Komponisten den Begriff der parenthetical structure. Dieser versucht, die offensichtlichen Brüche bzw. deren übergeordneten Zusammenhang in den Werken Beethovens zu fassen. Wohl kein großformales Werk Beethovens ist in seiner Anlage gespaltener und brüchiger als die Sonate op. 109. Das Thema des 1. Satzes war ursprünglich als Bagatelle angelegt, in das später die Seitensatzelemente, also das 2. Thema, fast gewaltsam, in einem völlig anderen Tempo hineingeschoben wurden. Ein Verfahren, das der Komponist im 3. Satz des Stückes weiter ausbaut. Wie sehr diese eingeschobenen Blöcke den ansonsten gleichförmigen, mono-motivischen Verlauf des Satzes verändern, sei durch folgende Montage, die ausschließlich das Material des 1. Themas aneinanderreiht veranschaulicht:

Zuspiel 6: op. 109, 1.Satz ohne Seitensatzelemente

Die Einschübe unterbrechen den fließenden Verlauf des Hauptthemas durch eine fast zwanghafte Expressivität, die in ihrer notierten Dynamik selten zum Klingen gebracht wird. In dieser Ausdruckskraft liegt die Parallele zum Komponieren Wolfgang Rihms.

Eine knappe Beschreibung des dramaturgischen Verlaufs des Klavierstücks Nr. 7 könnte ungefähr so lauten: Ein rhythmisch und dynamisch prägnantes Motiv wird durch Einschübe zunehmend unterbrochen, bis diese schließlich das Grundmotiv quasi vollständig verdrängt haben. Eliminiert man analog zum 1. Satz der op. 109 diese Einschübe, so erhält man ein ähnlich gleichförmiges Ergebnis, das hier ansatzweise dargestellt werden soll:

Zuspiel 7: Klavierstück Nr. 7 ohne Einschübe

Doch welche Funktion haben die jeweiligen Einschübe in den dazugehörigen Stücken? Während sie bei Beethoven sich strikt an die klassischen harmonischen Gepflogenheiten des Seitensatzes, nämlich die Rückführung in die Tonika, halten, bauen sie doch aus dramaturgischer Sicht eine bis in den 3. Satz unaufgelöste Spannung auf. Sie unterbrechen die Bewegung des 1. Themas und halten quasi den Fluß auf.

Raffinierter Weise verstärkt Beethoven diese Wirkung dadurch, daß er sich im Durchführungsteil des Satzes ausschließlich des Anfangsmotivs bedient und dieses eigentlich gar nicht durchführt.

Im Klavierstück Rihms dagegen unterlaufen die Einschübe zunächst fast subversiv die beharrliche Gleichförmigkeit des Themas und entwickeln dadurch eine Eigendynamik. Gemeinsam mit den Einschüben bei Beethoven ist ihnen eine im Vergleich mit den jeweiligen Grundmotiven stärkere charakteristische Prägung. Im Gegensatz zu jenen entwickeln sie zuweilen aber ihre Motivik aus derjenigen des Grundmotivs, dessen Beharrlichkeit sie zunächst spritzig und mit Witz entgegentreten, bevor sie sich oftmals sogar gewalttätig von ihr zu lösen versuchen. Gemäß der Schatten-Parabel dominieren sie zunehmend den Verlauf des Stückes.

Einige Beispiele:

Zuspiel 8: Einschübe

Manche Motive dieser Einschübe erinnern dabei wieder an die Beethoven-Sonate: So ist beispielsweise das folgende rhythmische Motiv prägend für den 2. Satz von op. 109:

Zuspiel 9: Rhythmus

Zuspiel 10: op. 109, 2. Satz, Thema

Diese 32tel-Kette verweist nicht zuletzt durch ihre Unmittelbarkeit auf die Girlanden im 1. Beethoven-Satz.

Zuspiel 11: 32tel-Kette

Zuspiel 12: op. 109, 1. Satz, Seitensatz, Girlande

Kurz vor dem Wiederereichen des Variationthemas des 3. Satzes kulminiert die Beethoven-Sonate in der wohl gewaltigsten Triller-Orgie der klassisch-romantischen Literatur. Auch im Klavierstück Nr. 7 werden vor der Climax Trillerketten zum tragenden Element. Der meist verfehlte, aber von Beethoven eindeutig bezeichnete fortissimo-Höhepunkt dieses Variationssatzes trägt durch manische Wiederholungen und Lagenwechsel fast Züge Rihmschen Komponierens – was die Frage des Schattengebers einmal wieder ad absurdum führt.

Zuspiel 13: op. 109, 3. Satz, Variation 4

Die eigentliche geistige Verbundenheit Rihms zu Beethoven zeigt sich aber in der Gestaltung des Höhepunkts seines Klavierstücks. In seinem Buch Der klassische Stil beschreibt Charles Rosen wie es Beethoven gelingt, einen Tonika-Akkord, also den Grunddreiklang, so zu setzen, daß er ein Auflösungsbedürfnis vermittelt. Eine Funktion, die sonst vor allem Dominante vorbehalten ist:

In gewissen Augenblicken ist Beethoven so chromatisch wie nur irgendein Komponist vor dem späten Wagner, einschließlich Chopins, aber seine Chromatik wird immer aufgelöst und verschmilzt mit einem Hintergrund, in dem der Tonikadreiklang letztendlich unumschränkter Herrscher bleibt. Gerade dieser Grunddreiklang ist es, mit dem Beethoven seine bemerkenswertesten, typischsten Wirkungen erzielt. An einer Stelle im Klavierkonzert G gelingt ihm das scheinbar Unmögliche, die Verwandlung dieser größten Konsonanz selbst (in die alle Dissonanzen sich per definitionem schließlich auflösen müssen) in eine Dissonanz. In den folgenden Takten verlangt der Tonikadreiklang von G-dur in Grundstellung fast ausschließlich durch rhythmische Mittel und ohne von G-dur weg zu modulieren eindeutig die Auflösung zur Dominante:

Zuspiel 14: Beethoven, Klavierkonzert Nr. 4

 

Und was macht Rihm: Bestimmten bisher vor allem 2- bis 3-lagige, aber dennoch jegliche Melodieassoziationen ausschließende, das Gehör stark beanspruchende Unisono-Ketten das Stück, so sind es nun sture energiegeladene Repetitionen eines Dur-Dreiklangs, die die Spannung des Stücks auf ihr Äußerstes bringen.

Nach all den komplizierten motivischen Verwicklungen nun das einfachste – und zur Zeit der Komposition allgemein verschmähte – Mittel: eine reine Harmonie, die sich in einem fast clusterartigen Klang entlädt.

Zuspiel 15: Klavierstück Nr. 7, Climax

Der Schattengeber und sein Schatten: Dies mag ein Ansatz gewesen sein für die Betrachtung zweier Kompositionen unterschiedlicher Epochen einer Tradition, der gewisse Aspekte beider Stücke miteinander in Beziehung setzte. Er war rein spekulativ und sollte zeigen, wie sehr die traditionelle und die zeitgenössische Musik sich gegenseitig bereichern und zu neuartigen Interpretationsansätzen führen können.

Es folgt nun, die Sonate E-Dur, op. 109 von Ludwig van Beethoven gespielt von Charles Rosen mit den Sätzen allegro vivace, prestissimo und dem abschließenden Variationssatz Gesangvoll, mit innigster Empfindung.

Zuspiel 16: Ludwig van Beethoven, Sonate op. 109

Gespielt von Charles Rosen hörten Sie die Sonate E-Dur, op. 109 von Ludwig van Beethoven. Zum Abschluß nun vollständig das Klavierstück Nr. 7 von Wolfgang Rihm in meiner eigenen Interpretation. In zwei großen Anläufen erreicht das Werk seinen fulminanten Höhepunkt, dem ein langsames come una aria als Coda gegenübersteht.

Zuspiel 17: Wolfgang Rihm, Klavierstück Nr. 7, 1980