Michael Iber, POSITIONEN Heft 78, 2009

Wechselrahmen :: Rahmenwechsel

 

Raum für elektronische Musik

»So stark dieses Erlebnis einer ersten Raum-Musik auch war, so zeigte sich doch von Anfang an die Schwierigkeit, diese Musik in einem Raum vorzuführen, der für ganz andere Zwecke gebaut wurde. Es müssen neue, den Anforderungen der Raum-Musik angemessene Hörsäle gebaut werden. Meinen Vorstellungen entspräche ein kugelförmiger Raum, der rundum mit Lautsprechern versehen ist. In der Mitte dieses Kugelraumes hinge eine schalldurchlässige, durchsichtige Plattform für die Hörer. Sie könnten von oben, unten und von allen Himmelsrichtungen eine für solche genormten Räume komponierte Musik hören. Die Plattform wäre über einen Steg erreichbar. So ist Akustikern und Architekten eine Aufgabe gestellt, die keine Spielerei mit Zukunftsträumen wäre, sondern eine dringende Lösung der gegenwärtigen Schwierigkeiten. Befänden sich in jeder größeren Stadt solche Räume, so bekäme auch das gemeinschaftliche Hören in Musikhallen, im Gegensatz zum Radiohören, wieder einen neuen Sinn. Die bisher übliche Konzertpraxis würde – was das Hören elektronischer Raum-Musik betrifft  von einer Form abgelöst, die dem Besuch von Bildergalerien entspräche. Es gäbe permanente Programme, die periodisch wechselten, und man könnte zu jeder Tageszeit das elektronische Programm hören.« In seinem berühmten Aufsatz Musik im Raum aus dem Jahr 1958 forderte Karlheinz Stockhausen einen Konzertsaal für elektronische Musik. Seine Argumente fußen auf den unbefriedigenden Erfahrungen, die er zwei Jahre zuvor bei der Uraufführung seiner Komposition Gesang der Jünglinge im Sendesaal des Westdeutschen Rundfunks in Köln gemacht hatte.

Bereits seit Beginn der 50er Jahre, also noch zu »Mono«-Zeiten experimentierte man mit der mehrkanaligen Verteilung von Klängen im Raum. Am Ende des Jahrzehnts war man dann soweit, an eine größere Öffentlichkeit heranzutreten. Und so schrieb Stockhausen seinen Aufsatz bezeichnender Weise 1958. In jenem Jahr, in dem nicht nur Le Corbusier und Iannis Xenakis für Edgard Varéses Poém Electronique den ersten auf musikalisch-avantgardistische Zwecke zugeschnittenen Raum kreierten, sondern auch Pierre Boulez mit seinem Stück Poésie pour pouvoir für Orchester und Elektronik in Donaueschingen die Live-Elektronik „erfand“. Für das damalige Publikum muss die Erfahrung überwältigend gewesen sein. So schrieb der spätere Leiter der Darmstädter Ferienkurse Thomas Ernst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: »Die Orchester spielen, die Lautsprecher sind eingeschaltet: Musik dringt von allen Seiten auf den Hörer ein. Nehmen wir den Idealfall für den Komponisten wie für den Hörer an: Musik herrscht wirklich im Raum, nichts bleibt un-gehört, un-erhört. Auch unabhängig von einer neuen Ästhetik des Kunstwerkes hat der Konzertsaal eine neue Form übernommen: Er entlässt nicht mehr in den stillen, dem Konzertpodium, der einst einzigen ›Schallquelle‹, abgekehrten Winkel; er sichert die Permanenz des klanglichen Eindrucks, soweit sie dem Rezipienten zu sichern ist. Das ist vielleicht ein noch unterschätzter Faktor, der einem so hochdifferenzierten ›Stoff‹, wie die Neue Musik ihn darstellt, zugute kommt.«

Ein gutes Jahrzehnt später machte die elektronische Raumverteilung einen weiteren Quantensprung: Stockhausen realisierte sein Kugelauditorium auf der Weltausstellung in Osaka, das allerdings wie der Philipps-Pavillon zeitlich begrenzt angelegt ist. Hans Peter Haller und Peter Lawo entwickeln für das Experimentalstudio des SWR mit dem Halaphon das erste »vollelektronische Klangsteuergerät zur Bewegung einer Klangquelle in einem vorgegebenen Raum«, ein Konzept, das als Spatialisateur von dem wenige Jahre später gegründeten IRCAM in Paris adaptiert, weiterentwickelt und als Software heute noch vertrieben wird. Einen ganz eigenen Weg ging François Bayle, der 1974 mit der Groupe de Recherches Musicales (GRM) das Akusmonium entwarf. Die grundlegende Idee dieses Lautsprecherorchesters ist es, meist zweikanalige Musique Concrète um den Aspekt des Raumes zu erweitern. Über ein Mischpult werden anhand einer Spielpartitur bis zu 80 auf der Bühne und im Publikum verteilte Lautsprecher bespielt. Charakteristisch für das Akusmonium ist seine Zusammensetzung aus sehr unterschiedlichen Lautsprechertypen. Bayle versteht den einzelnen Lautsprecher als individuelles Instrument mit eigener Klangfarbe.

Auch das Ambisonics-Verfahren, das in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen hat und als eine Alternative zur Wellenfeldsynthese zur Diskussion steht, wurde bereits in den 70er Jahren entwickelt. Es beruht auf der Erzeugung virtueller Klangquellen, deren realistische Wirkung stark von der Anzahl der tatsächlich vorhandenen Lautsprecher und der Rechentiefe des Computeralgorithmus abhängt.

Mit seinem 2006 fertig gestellten Klangdom hat das Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe Stockhausens Idee eines eigens für elektro-akustische Raumgestaltung konzipierten Konzertsaals wieder aufgegriffen. Im Gegensatz zum Kugelauditorium der Weltausstellung ist diese aus 47 Lautsprechern in Form einer Halbkugel angeordnete Konstruktion über den Köpfen des Publikums dauerhaft und ermöglicht so nachhaltige Forschungen und langfristige künstlerische Projekte. Ein weiterer Fortschritt gegenüber dem Osaka-Projekt ist die Bedienung des Systems mittels einer flexibel gestalteten benutzerorientierten Software, mit welcher sich die Position von Klängen im Raum über eine graphische Oberfläche bestimmen lässt und die damit dem Komponisten lästiges Nachdenken über technische Hintergründe abnimmt. Auch mit dem implementierten Vector Based Amplitude Panning (VBAP), im Prinzip eine Übersetzung des Stereopanoramas auf Mehrkanalsysteme, orientiert sich das ZKM an den im Bereich der elektronischen Musik etablierten Klangverteilungsverfahren. Die Lautsprecherhängung ist zwar prinzipiell für Ambisonics geeignet, für ihre Ansteuerung muss ein Komponist allerdings auf institutsfremde Software wie den CubeMixer des Instituts für Elektronische Musik der Universität Graz oder die Software der Züricher Hochschule der Künste zurückgreifen.

 

Raum für Räume

Die Grundidee der Wellenfeldsynthese führt zurück ins 17. Jahrhundert zu dem heute wenig bekannten Niederländischen Mathematiker, Physiker und Astronom Christiaan Huygens. Auf all seinen Fachgebieten leistete Huygens Überragendes: Er gilt unter anderem als Begründer der Wahrscheinlichkeitsrechnung, entdeckte mit einem selbstgebauten Teleskop die Monde des Saturn, patentierte die Pendeluhr und entwickelte ein Tasteninstrument bei dem die Oktave in 31 Töne gleichen Abstands unterteilt ist. Darüber hinaus behauptete Huygens seinerzeit nicht nur als erster, dass Licht aus Wellen bestehe, sondern auch, dass jeder Punkt einer Wellenfront als Ausgangspunkt einer neuen Welle betrachtet werden kann. Veranschaulichen lässt sich dieses sogenannte Huygenssche Prinzip an folgendem Beispiel: Ein in einen Teich geworfener Stein verursacht eine sich kreisförmig ausbreitende Wellenfront auf dem Wasser. Das Huygenssche Prinzip besagt nun, dass eine unendliche Anzahl von Steinen, die auf eine beliebige Position der ursprünglichen Wellenfront fallen, eine identische Wellenfront erzeugt. Übertragen auf die Wellenfeldsynthese heißt das: Mit unendlich vielen Lautsprechern lässt sich die Akustik eines beliebigen Raumes – als Entsprechung des ursprünglich geworfenen Steines – in einen anderen Raum übertragen. So schön die Theorie. Einer wörtlichen Umsetzung in die Praxis steht schon die geforderte unendliche Anzahl von Lautsprechern, die selbstverständlich alle einzeln angesteuert werden müssten, grundsätzlich entgegen. Wie viele andere Technologien kann auch eine auf dem Huygensschen Prinzip beruhende Synthese nur als Kompromiss mit zahlreichen Vereinfachungen realisiert werden. Bereits 1934 dachte man an eine Realisierung des Huygensschen Prinzip in Form eines „akustischen Vorhangs“, der Ansatz wurde aber sehr schnell aufgrund nicht umsetzbarer Prämissen verworfen. Und so dauert es mehr als ein halbes Jahrhundert, bis sich 1988 A. J. Berkhout, Professor des Fachbereichs Imaging Science & Technology an der Technischen Universität Delft, der Herausforderung erneut stellt und eine erste Veröffentlichung zur Wellenfeldsynthese beisteuert. Richtig Auftrieb bekommt das Unterfangen 2001 mit dem von der Europäischen Union geförderten CARROUSO-Projekt, zu dem sich unter anderen die TU Delft, France Telecom, das IRCAM und das Fraunhofer Institut zusammenschließen. Neben der Entwicklung neuer Audio-Technologien wie der Wellenfeldsynthese liegt ein zweiter Schwerpunkt des Projektes in der Erarbeitung eines Datenformats (MPEG4), das neben der eigentlichen Audiodatei auch Informationen unter anderem zur Aufnahmeakustik enthält und so auf verschiedenen Systemen und in unterschiedlichen Räumen automatisch die richtigen Algorithmen einrechnet. Sowohl das IRCAM (zusammen mit der Schweizer Firma sonicEmotion) wie auch das Fraunhofer Institut haben kommerzielle Wellenfeld-Systeme entwickelt, die als Markt hauptsächlich Kino und Bühne anvisieren. Als Räume mit einer mehr oder weniger standardisierten, halbwegs neutralen Akustik wären moderne Kinos ideale Aufführungsorte für elektronische Musik, so wie sie Stockhausen 1958 gefordert hatte. Standardmäßig ausgestattet mit Wellenfeld-Systemen würden sie zum perfekten Konzertsaal.

Den beschriebenen Systemen ist die Wellenfeldsynthese vor allem in drei Punkten überlegen: Sie kennt keinerlei »Sweet Spot« für Klänge, die im Abstand der Lautsprecherfront oder dahinter positioniert sind und ermöglicht so realistische Klangverteilungen und -bewegungen auf dieser Fläche. Als einziges Verfahren erlaubt sie - unter bestimmten Bedingungen - die virtuelle Platzierung von Klängen »vor« den Lautsprechern. Man kann dann sogar um einen Klang im Raum herumgehen. Und drittens dring sie mit ihrer Möglichkeit, Räume zu simulieren, in neue ästhetische Dimensionen vor, wie sie - auf mechanischer Ebene - Beat Furrer mit der »Blue Box« zu seinem Stück Fama angedeutet hat.

 

Raum für Praxis

Als stark vereinfachte Umsetzung des Huygensschen Prinzips bringt die Wellenfeldsynthese eine ganze Reihe von zum Teil lösbaren, zum Teil aber auch unlösbaren Problemen mit sich. Das zeigt sich deutlich bei der Einwicklung des bisher größten Wellenfeldsystems im Hörsaal 104 der Technischen Universität Berlin. Ein circa ein Meter hohes Lautsprecherband, bestehend aus 2730 einzelnen Lautsprechern umgibt den 644 Sitzplätze umfassenden Hörsaal. Zur Berechnung und Steuerung hat die Holländerin Marije Baalman im Rahmen ihrer Promotion die auch in anderen Umgebungen einsetzbare OpenSource-Software WONDER (Wave Field Synthesis Of New Dimensions of Electronic Music in Realtime) entwickelt und trägt damit »gleichzeitig dem universitären Gedanken einer auch für eine globale Entwicklergemeinde offenen System-Plattform für Forschung und Entwicklung Rechnung«. Mithin ist das Wellenfeldsystem der Technischen Universität, das mit seinem Studio für elektronische Musik schon für das Kugelauditorium verantwortlich war, der einzige Ort, an dem Komponisten regelmäßig mit der Wellenfeldsynthese arbeiten können. Doch nun zu den Problemen, die allein deshalb erwähnenswert sind, weil sie auch ästhetische Konsequenzen nach sich ziehen. Um den menschlichen Hörbereich vollständig abzubilden, müsste der Abstand der Lautsprechermembranen unter 2 cm liegen. Gleichzeitig brauchen die Membranen aber einen Mindestdurchmesser, um auch tiefe Frequenzen wiedergeben zu können. Die eigens für den TU-Hörsaal entworfenen Lautsprecherpaneele bestehen deswegen aus zwei Lautsprechertypen: kleine für höhere Frequenzen mit einem Abstand von ca. 10 cm und größere für die tieferen Frequenzbereiche mit einem Abstand von 40 cm. Trotzdem sind die Begrenzungen des Frequenzbands für den Hörer deutlich wahrnehmbar. Auch der Raum selbst ist alles andere als optimal für eine Beschallung: Durch sein Volumen entwickelt er trotz umfangreicher Dämmmaßnahmen eine ausgeprägte Eigenakustik. In der Theorie geht die Wellenfeldsynthese aber von einem akustisch neutralen Projektionsraum aus, in den die aufgenommene oder errechnete Akustik hinein platziert wird. Zwar gibt es längst Ansätze, mit adaptiven Filtern die Eigencharakteristika des Abhörraumes zu eliminieren. Ob das aber je in einem mehrere hundert Zuhörer umfassenden Konzertsaal gelingen kann, sei dahin gestellt. Auch zeigte sich bei der ehrgeizigen Live-Übertragung eines Orgelkonzerts aus dem Kölner Dom, die das TU-Team um Professor Stefan Weinzierl im Sommer letzten Jahres realisierte, dass der Zuhörer zwar mit der Kölner Akustik umspielt wird, dass er sich selbst, seine Bewegungen, die Geräusche seiner Nachbarn usw. aber natürlich nur in der originären Akustik des Hörsaals wahrnehmen kann. Im Prinzip müssten diese Geräuschquellen auch mit der Raumakustik des Domes gefaltet und wieder in den Saal eingespielt werden.

Auf der künstlerisch-ästhetischen Ebene erwiesen sich die Konzerte im Rahmen der Berliner Inventionen 2008 als aufschlussreich. Anlässlich des 50-jährigen Bestehens der GRM finanziell gut ausgestattet, konnten die Veranstalter zusätzlich zu dem fest installierten Wellenfeldsystem das Akusmonium und eines kleine Version des ZKM-Klangdoms im TU-Hörsaal installieren. Bei dieser wohl einmaligen direkten Gegenüberstellung der drei Systeme zeigten sich die Systeme aus Paris und Karlsruhe der Wellenfeldsynthese in klanglicher Präsenz und farbiger Reichhaltigkeit deutlich überlegen, was darauf zurückzuführen ist, dass die Lautsprecher sich zum Teil im Publikumsbereich befinden. Die Stärke der Wellenfeldsynthese liegt hingegen in der Bewegung des Klangs, so dass die Kombination mit einem der beiden anderen Systeme den heutigen »State-of-the-Art« der Klangverteilung definieren dürfte.

Die Konzerte im Hörsaal offenbarten auch, wie sehr die elektronische Musik an klanglichen und räumlichen Stereotypen festhält. Allzu ermüdend wirkt der an ADHS erinnernde Drang, immer gleiche oder ähnliche Klänge im Raum umher sausen zu lassen. Die elektronische Konzertmusik scheint gefangen in den Paradigmen, die Stockhausen vor 50 Jahren postulierte. Das große Potenzial der Wellenfeldsynthese, das Spiel mit Akustik, ist von den Komponisten noch nicht entdeckt worden. Dabei deutet sich hier eine ganz leise Herangehensweise an – denn die Arbeit mit dem Klang von Raum ist, so manche Klanginstallation hat es vorgemacht – eine subtile Kunst -, die der doch sehr offensichtlich und geheimnislos agierenden elektronischen Konzertmusik neue Perspektiven eröffnet. Wenn sich bisher Klang im Raum bewegte, so kann sich nun auch Raum um einen Klang herum bewegen – soweit sich denn überhaupt immer etwas bewegen muss.